Homeschooling heisst jetzt Fernlernen – Der Aufstieg von Unschooling

Wieso Unschooling wirklich die bessere Option ist - Zwischen Fernlernen, Homeschooling und Unschooling

Die derzeitige Krisensituation und die unterschiedlichen Reaktionen der Schulen stellen die Familien vor eine grosse Herausforderung: Eltern schlüpfen in die Lehrpersonen-Rolle, obwohl sie gleichzeitig anderen Verpflichtungen nachgehen müssen. Dabei merken viele, dass das aktuelle Lernsetting nicht mehr den Voraussetzungen einer hochgradig volatilen Welt entspricht. Wir müssen unsere Lernkultur grundsätzlich neu aufsetzen.

Unter Lehrpersonen herrscht derzeit ein reger Austausch. Von einem Moment auf den anderen wurden Schulen und ihre Leitungen mit der Digitalisierung und ihren Kollaborationstools konfrontiert. Und so vielfältig die Kinder, Jugendlichen und ihre Bedürfnisse sind, so vielfältig sind auch die unterschiedlichen Strategien, wie Schulen ihren Bildungs- und auch Selektionsauftrag weiter erfüllen möchten.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen

Es gibt Kantone, die fordern von ihren Schulen, dass der Unterricht weiterhin nach Stundenplan durchgeführt wird. Hier setzen Lehrpersonen beispielsweise Microsoft Teams als Plattform ein, wo Aufträge an Schüler und Schülerinnen verteilt werden, die alle zur selben Zeit am selben Thema vor ihrem Bildschirm die Themen abarbeiten. Fehlt jemand, so fällt das in der Video Live-Schaltung sofort auf.

Auf der anderen Seite gibt es Schulen, welche ihre Aufgabe derzeit folgendermassen interpretieren: Sie möchten die Familien einfach bestmöglich unterstützen und stellen Tipps zur Verfügung, wie man beispielsweise einen Arbeitsplatz so einrichtet, dass man sich besser konzentrieren kann sowie eine rhythmisierte Tagesstruktur für Langschläfer oder Frühaufsteher, die die Kinder dann selber mit Inhalten füllen können. Die jeweiligen Klassenlehrpersonen bieten Material an, das die Schülerschaft bearbeiten kann aber nicht muss. Alles ist freiwillig und unterstützend angedacht. Die Lehrpersonen sind bei Fragen erreichbar und ein Austausch mit der Klasse ist aufgesetzt, wo die Lernenden ihre aktuellen Bedürfnisse artikulieren können.

Weiter gibt es den Mittelweg: Schulen, die Wochenpläne und Aufgaben aufschalten, die bearbeitet und abgegeben werden sollen. Die Lehrpersonen sind erreichbar und unterstützen, es wird aber weiterhin versucht, die Klasse im Rhythmus der angedachten Stoffvermittlung weiterzuführen. Manchmal gibt es einen Video-Austausch via Zoom.

Wie geht es den Familien dabei?

Im Zentrum der ganzen Bemühungen stehen die Eltern und ihre Kinder, die jetzt eben zuhause lernen sollen. Ein Austausch mit zahlreichen Familien hat ergeben, dass die Unterschiede massiv sind. Eine Mutter beklagt beispielsweise, dass sie derzeit stark überlastet sei. Neben ihrer eigenen Verpflichtung im Homeoffice, müsse sie nun auch ihren Sohn betreuen, der in der vierten Klasse ein Aufgabenvolumen zur Bearbeitung bekommen habe, das ihn 5 Stunden pro Tag beschäftige. Zwar sei der Junge unglaublich pflichtbewusst und darum bemüht, den Erwartungen gerecht zu werden, dennoch sei sie dabei entsprechend gefordert, da sie immer wieder erklären und unterstützen müsse.

Wiederum andere rufen dauernd bei der Lehrperson an und beklagen, dass ihre Kinder zu wenig zu tun hätten… Mehr Stoff sei gefragt.

Und dann sind da jene Familien, die momentan gar nicht erreicht werden können. Sie schotten sich ab von den schulischen Anforderungen, indem sie die Telefonate der Lehrpersonen einfach ignorieren und auch die schriftliche Kontaktaufnahme ins Leere laufen lassen.

Eins wird klar: Die aktuelle Situation öffnet die gesellschaftliche Schere mehr denn je: Wer digital (un)mündig ist, wird sofort augenscheinlich und die Grenzen digitaler Kollaboration werden gut erkennbar. Im digitalen Raum versagen unsere klassischen Führungsstrukturen. Zwar können wir umso besser überprüfen, wer jetzt eine Aufgabe erledigt hat, doch sind wir auf die Kooperation der Elternhäuser angewiesen. Die disziplinarische Frage lagert sich auf sie aus. Und viele Eltern haben weder die Kapazität noch den Willen, diese Aufgabe zu übernehmen. Sie werden jetzt direkt vor die Frage gestellt, wie denn Lernen eigentlich zielführend organisiert werden könnte.

Lernen im digitalen Zeitalter

In meinen beiden Artikeln “Was ist eigentlich Digitalkompetenz und wie erwirbt man sie?” und “Die Schule der Zukunft lässt die Kinder lernen” habe ich bereits ausgiebig darüber geschrieben, welches Kompetenzspektrum wir heute brauchen und welche Rahmenbedingungen zu deren Erwerb zielführend wären.

Durch die Instabilität der aktuellen Krisensituation sind Gesellschaft und insbesondere das Schulsystem gefordert, ihre Rolle als Sozialisierungssystem, die Strukturen und Prozesse zu überdenken und dem Wandel der Zeit anzupassen. Davon bin ich überzeugt.

Gerade synchrones Lernen nach Stundenplan versagt gerade kläglich. Bestehen können darin jene Lernenden, deren Eltern ihr Lernen nun für sie organisieren und zu Hause die komplette Lehrpersonen-Rolle ausfüllen: Ein Vollzeit-Job. Der Sinn dieser Bemühungen besteht wiederum lediglich darin, die aktuellen Strukturen aufrecht zu erhalten. Stoff wird gebüffelt und wieder vergessen. Irgendwie werden die Lernenden dabei nur zum Teil kompetent. Das Gelernte muss mit Erfahrungen angereichert sein, damit Situationen im Leben gelöst oder gemeistert werden können.

Letzteres ist doch der Kern unseres Lernens: Wir wollen Probleme lösen können und dazu sind folgende Kompetenzen zielführend: Kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation, Kooperation, Kreativität und Innovation. Dieses sogenannte Kompetenzspektrum der 4K entfaltet sich dadurch, dass die Lernenden ihre eigenen Projekte angehen können. Dann lernen sie aus intrinsischer Motivation heraus. Sie definiert sich dadurch, dass jemand von sich aus seine eigenen Aufgaben setzt und diesen nachgeht. Bei Kindern nennt man dies “freies Spiel” und auch Innovationsverantwortliche zahlreicher Firmen versuchen die Erwachsenen wieder dazu zu bewegen, Selbstverantwortung zu übernehmen. Ein von aussen aufgesetzter Arbeitsauftrag kann nie den individuellen Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Jetzt erst recht nicht.

Intrinsischen Wirken

Solche Situationen können sich durch den wegfallenden Rahmen schulischer Fremdsteuerung doch erst recht ergeben, wenn man ihnen den Raum lässt.

So beschäftigt sich mein fünfjähriger Sohn derzeit am liebsten mit Gartenarbeit. Er schneidet die Hecken zurück und wird dabei unterstützt von seiner dreijährigen Schwester. Als er dafür einen Lohn von acht Franken aushandelt, fragt ihn seine Schwester, ob er ihr davon etwas abgebe. Er verneint, und sie quittiert ihren Job, der darin besteht, die abgeschnittenen Äste in den Grüncontainer zu tragen. Letztendlich wird der Lohn aufgeteilt. Zusammenarbeit, Verhandlung und Wertigkeit von Arbeit wird erfahrbar gemacht.

Wiederum andere Kinder helfen im Haushalt mit, kochen und lernen dabei spielerisch die Grundlagen der Proportionalität, Mathe in praktischer Anwendung.

Und Jugendliche können für Ihr Lernen ins Netzwerk gehen. Co-kreatives Problemlösevermögen erwirbt sich gut in Minecraft, Roblox, World of Warcraft usw… Letzteres soll gar über das grösste Wiki der Welt verfügen. Dass die jungen Menschen dabei schreiben, Englisch, etc. lernen, ist ein wunderbarer Nebeneffekt.

Auf das natürliche Bedürfnis der Menschen, Selbstwirksamkeit zu erfahren und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, sollten wir jetzt vertrauen. Dabei wird immer gelernt.

Wenn man allerdings Jahre der Fremdsteuerung erlebt hat, wird es schwieriger, wieder ins intrinsische Tun zu kommen. Menschen brauchen dann vielleicht erst einmal eine Pause.

Genug Aktivismus – Im Moment ankommen

Vielleicht haben Sie sich gedacht: “Nicht noch ein Angebot!” – Derzeit sind jegliche Kanäle regelrecht übersättigt mit Ratschlägen, Wegleitungen und Angeboten aller Art…

Gönnen Sie sich und ihren Kindern diese Auszeit, kommen Sie ins Gespräch mit ihnen. Im Moment werden wir konstant durch Negativmeldungen in den Medien aufgeschaukelt und den Bildern aus den apokalyptischen Serien und Filmen wie Black Mirror oder Contagion, welche wir zu diesem Szenario verinnerlicht haben. Zudem kommen bei vielen Menschen Existenzängste hinzu. Diese übertragen sich auf die Kinder und Jugendlichen. Gehen Sie jetzt mit Ihren Kindern in Beziehung. Spielen Sie zusammen und seien Sie herzlich zueinander. Es besteht eine einmalige Chance, jetzt einfach da anzukommen, wo es zählt: Bei den zwischenmenschlichen Beziehungen.

Und wenn das Bedürfnis und die Bereitschaft besteht, wieder ins Tun zu kommen, dann ist die Toolbox für selbstgesteuertes Lernen, welche Sie oben verlinkt finden, eine gute Anlaufstelle.

Um den Anforderungen der Digitalisierung standhalten zu können, muss sich unser Schulsystem deutlich wandeln. Dies birgt die riesige Chance, dass Lernen wieder Spass machen kann, zumal die individuellen Interessen ins Zentrum rücken. Nils Landolt ist Lehrer, ehemaliger Innovationsmanager, Catalyst für das Nachhaltigkeitsziel 4 (Bildung) bei Collaboratio Helvetica und gründet derzeit das LernHaus Sole zusammen mit seiner Frau. Sein Wissen verwebt er für eine zeitgemässe Bildung.

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