Was ist eigentlich Digitalkompetenz und wie erwirbt man sie?

Ein Anstoss zum Wandel unseres Bildungswesens für mehr Digitalkompetenzen

Digitalkompetenz ist ein vielverwendetes Schlagwort, welches unterschiedlich aufgefasst wird. Wie man im digitalen Zeitalter kompetent handelt und wie unsere Schulen diese Kompetenz ausbilden können, lesen Sie hier.

Missverständnisse aufklären

Schulen möchten, dass ihre Lernenden kompetent durchs Leben gehen können und wollen ihnen dazu die notwendige Basis vermitteln. Durch den rapiden Gesellschaftswandel, in dem wir uns gerade befinden, rückt der Begriff Digitalkompetenz immer öfter in den Fokus gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Bildungsthema.

Unter “Digitalkompetenz” verstehen alle etwas anderes. Man kann somit davon ausgehen, dass wenn sich zwei Personen darüber unterhalten, man weitgehend aneinander vorbeiredet, wenn man dieses Verständnis nicht vorab klärt. Eine breite Masse jedoch stellt sich unter Digitalkompetenz Anwenderkompetenzen vor, wie zum Beispiel die Fähigkeit, ein Gerät zu bedienen oder im Internet erfolgreich zu suchen. Entsprechend brechen viele Schulen den Bereich Medien und Informatik so herunter, dass sie ebendiese Teilkompetenzen vermitteln wollen. iPads halten serienweise Einzug in Klassenzimmern, die Lehrpersonen werden darauf geschult und digitale Verwaltungsmechanismen im Hintergrund installiert. Die Schule gibt sich voll und ganz digital und die Zukunft scheint gewahrt.

Nun gehören diese Kompetenzen tatsächlich zum Spektrum der “Digitalkompetenz”, sie sind jedoch nur ein kleiner Teil davon. Ich verstehe unter Digitalkompetenz, dass derjenige digitalkompetent ist, der sich im digitalen Zeitalter erfolgreich durchs Leben schlagen kann. Um zu verstehen, was heute zentral ist, muss man sich jedoch erst einmal die treibenden Entwicklungen vor Augen führen:

Die Treiber des Wandels

Seit nunmehr einigen Jahrzehnten werden Computer fortlaufend weiterentwickelt. Chipsets, also die Schaltkreise innerhalb der Geräte, werden stets kleiner und leistungsfähiger, während die Software, also die darauf Laufenden Programme, immer effizienter integriert wird. Vor zwanzig Jahren hatte mein erster Computer einen Prozessor mit 500 Megahertz Taktung. Er konnte also 500 mal 1024 (500Tsd) Befehle pro Sekunde ausführen. Das Gerät stand unter meinem Pult und nahm ziemlich viel Platz ein. Heute wird mein Smartphone von einem Prozessor angetrieben mit 8 Kernen à 2.7 Gigahertz und kann somit weit mehr Operationen durchführen (8 x 2.7 x 1024 x 1024 = 22.6Mio). Zudem sind die Geräte immer vernetzter. Im Internet of Things (IoT) werden sie darauf ausgerichtet, direkt miteinander zu kommunizieren und somit gemeinsam Aufgaben lösen zu können. Diese technologische Entwicklung verläuft exponentiell, da sie auf dem Binärsystem aufbaut: ein Computer schaltet immer mit 1 oder 0, also Strom oder kein Strom und baut so alles auf einer Art Morsecode auf, der dann von Software interpretiert und zum Beispiel auf einem Bildschirm dargestellt wird. Wenn nun diese Schaltkreise immer kleiner und feiner werden, so ergibt sich eine Vergrösserung in der Potenz (2, 4, 8, 16, 32, 64 usw…), welche die Weizenkornlegende treffend illustirert. So soll der Erfinder des Schachspiels Sissa ibn Dahir vom indischen Herrscher Shihram so viele Weizenkörner als Lohn verlangt haben, wie die Rechnung ergibt, wenn man auf das erste Feld eines Schachbretts ein Korn legt, dann auf das nächste zwei und im jeweils nächsten Feld die vorherige Anzahl wieder verdoppelt, bis man am Schluss sagenhafte 18,45 Trillionen Körner zählt. Genauso verhält es sich mit Computern. Das Gesetzt dahinter nennt sich Moores Law. Nun gibt es zwar Stimmen, die behaupten, dass diese Entwicklung derzeit stagniere, tatsächlich treiben Wissenschaftler aber eine weitere Innovation voran: Den Quantencomputer. Ein Gerät, das durch die Erweiterung des binären Systems mittels dem sogenannten Superpositionszustand weder 0 noch 1, sondern einen unbestimmten Zustand dazwischen verbucht und somit noch kompliziertere Verhältnisse auflösen kann.

Wir wissen, mit welchen Möglichkeiten uns die Erfindung des iPhones im Jahr 2007 beglückt hat. Erst heute, ungefähr zwölf Jahre später, lernt unsere Gesellschaft langsam damit umzugehen. Das Wissen der Welt halten wir ständig in unserer Hand. Taxis buchen wir nicht mehr mittels Telefonanruf und letzterer wird durch Google Duplex, einen algorithmisieren Sprachassistenten, der für uns Telefongespräche führt, mittlerweile auch obsolet gemacht. Die technologische Entwicklung schreitet wacker weiter voran und bringt zahlreiche Innovationen mit sich, die wir heute noch nicht einmal zu erahnen wagen. Diese exponentielle Veränderungsgeschwindigkeit wälzt die Welt um uns herum um. Der einst äusserst erfolgreiche SMS Dienst wurde durch Whatsapp und Internet Flatrate Abos verdrängt, Menschen kaufen keine CDs mehr, Serien werden öfters geschaut als Filme, Exlibris schliesst seine Filialen und konzentriert sich aufs online Geschäft. In seiner Studie “Wandel der Arbeitswelt” kommt Prof. Dr. Peter Kruse zum Schluss, dass hochrangige Führungskräfte der deutschen Wirtschaft sich bewusst sind, dass in solch einem komplexen Zustand nicht mehr linear gesteuert werden kann. Sie segeln mit ihren Firmen auf Sicht und versuchen möglichst agil die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Agile Führungsprinzipien und das Coaching von Firmen in ebendiesem Bereich sind der Kassenschlager der vergangenen Jahre. Man ist bestrebt, die Mitarbeitenden zu ermächtigen und sie dazu anzuhalten oder besser anzutreiben, eigene Entscheidungen zu fällen, möglichst kreativ. Leider scheitern diese Versuche heutzutage oftmals. Immer öfter merken Firmen, dass ihre Mitarbeitenden sich nicht selbst organisieren können. Sie haben gelernt, Anweisungen zu befolgen und sich in der Hierarchie einzuordnen. Dieses Verhalten führt letztendlich nicht zu agiler Selbstorganisation. Dabei handeln viele Menschen dann noch fortlaufend immer schön in den eigenen Boxen, sehen nicht über den Horizont hinaus und sind unfähig, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und kreativ zu lösen. Aber wieso?

Ein Blick aufs Schulsystem

In unseren Schulen herrscht die klare Praxis, Fachbereiche fein säuberlich zu trennen und abgepackt in 45 minütigen Lektionen häppchenweise zu vermitteln. Fremdgesteuert und isoliert wird schul- und scheinbar wirtschaftskonformes Verhalten herantrainiert. Ein Ausbildungssystem, das hervorragend Mitarbeiter ausbildet, welche sich in der taylorisierten Produktionskette eines Betriebs der Industrialisierung zurechtfinden und ihren Teil erledigen. Dieses System wurde eben auch im alten Preussen zu diesem Zwecke installiert und bislang nur durch inkrementelle Mikroreformen verändert. Nun haben wir aber genau diesen Teil digitalisiert. Diese Produktionsketten und Aufgabenbereiche werden hervorragend von Algorithmen bearbeitet. Dazu braucht es keine Menschen mehr. Und immer weitere Bereiche fallen der fortlaufenden Automatisierung zum Opfer. So viele, dass Daniel Susskind in seinem TED Talk „3 myths about the future of work (and why they’re not true)“ sogar davon spricht, dass die bislang anerkannte “Lump of Work Fallacy” selber eine Fallacy sei, also ein Irrglaube. Dass Automatisierung eben nicht zu mehr Jobs führe durch die sinkenden Reproduktionskosten und die grössere Nachfrage, sondern dass neue Jobs nun zwar hochqualifizierten Mitarbeitenden zugänglich seien, diese aber innert kürzester Zeit wieder verschwinden, zumal wir uns in einer exponentiellen Entwicklung befinden und letztendlich praktisch alles automatisiert werden könne. Alles ausser das, was die Menschen wirklich gerne tun und jenes, wo der Mensch mit dem Menschen zu tun haben möchte.

Was hilft uns in Zeiten der ständigen Veränderung?

Man hat den holländischen Schachgrossmeister Jan Hein Donner gefragt, wie er sich für ein Turnier gegen den IBM Algorithmus Deep Blue vorbereiten würde und dieser hat geantwortet: “Ich würde einen Hammer mitbringen!”

Anstatt der Technologie also eine Kriegserklärung zu unterbreiten könnten wir uns aber auch fragen, was uns denn von Maschinen unterscheidet. Die Antwort von Prof. Dr. Gerald Hüther umfasst ziemlich klar, was ich unter Digitalkompetenz verstehe:

  1. Intentionalität, also den Willen, etwas zu tun → Computer führen nur aus, wozu sie programmiert sind und haben keinen inneren Antireb
  2. Co-Kreativität, also gemeinsam komplexe Probleme zu Lösen → Computer machen keine Fehler, sie werten nur hocheffizient Daten aus und geben statistische Antworten. Das kannn Co-Kreative Prozesse unterstützen, ist an sich aber nicht zur Co-Kreativität fähig.

Ein weiterer interessanter Ansatz kommt von Astro Teller, Googles Master of Moonshots, dessen Grafik im Buch “Thank you for being late” von Thomas L. Friedman aufgezeigt wurde.

So sagte dieser, dass wir uns in einer derart beschleunigten Situation befänden, dass nichts mehr linear verlaufe. Menschen seien sich jedoch lineare Bewegungen gewohnt. Die Beschleunigung eines Autos sei beispielsweise linear, ein Frontalcrash jedoch exponentiell. Zudem seien wir stabilitätsorientiert. Wir streben stets stabile Zustände an, was auch Peter Kruse bestätigt. Nun gehe es darum, eine neue Form der Stabilität zu erlangen, eine dynamische Stabilität. Dies sei wie Fahrradfahren: Man müsse ständig treten, um nicht umzufallen.

Teller Graph
Quelle: https://coachingcircles.ca/a-case-for-lifelong-learning/

Fazit

Digitalkompetenz umfasst Anwenderkompetenzen an digitalen Geräten, da es sich dabei um Werkzeuge der Kultur handelt, sind sie für Lernende sowieso interessant und werden natürlich erfasst. Sie müssen bereitgestellt werden, um in Problemsituationen zu dienen, als Werkzeuge eben. Vielmehr aber handelt es sich dabei um die Fähigkeit zu kreativen Lösungsfindung, sich selber zu organisieren, teamfähig zu sein, Gegebenes kritisch zu hinterfragen, sich zu kennen und dynamische Stabilität aufrecht zu erhalten. Um im digitalen Zeitalter kompetent zu werden, müssen Schulen ihren Lernenden also Instabilität zumuten und zwar in höchstem Masse. Es gilt Fachbereiche nicht mehr abzutrennen, sondern den SuS Co-Kreative Erlebnisse zu ermöglichen. Diese können nicht fremdgesteuert werden. Die Lehrpersonen müssen die Kontrolle abgeben und Lernumgebungen schaffen, die alle Kinder in ihren Interessen ansprechen. Gelernt wird frei und komplett altersdurchmischt. Bewertung kann nur noch formativ stattfinden, dann wenn die Lernenden explizit danach fragen. Das Zeugnis ist Vergangenheit und weicht einem individuellen Lernprotfolio, zum Beispiel in Form eines Blogs. Die Kinder lernen ihre individuellen Potenziale kennen und wertschätzen diese gegenseitig. Gemeinsam werden Lösungen erarbeitet, die kein Lehrplan vorhersehen kann. Soziales Lernen ist der Status Quo, immer. Konkurrenzdenken wird auf ein Minimum reduziert, stattdessen greifen die Hände ineinander und man unterstützt sich gegenseitig. Dynamische Stabilität ist die Konsequenz.

Wie sich Schule konkret verändert, lesen Sie im Artikel „Lernen Statt Belehren – Die Rollen Verändern Sich Im Schulwesen“ und weiterführend im Folgeartikel „Lernen braucht keine Wände – Brauchen wir dann noch Schulen?“ von Philipp Zimmer

Um den Anforderungen der Digitalisierung standhalten zu können, muss sich unser Schulsystem deutlich wandeln. Dies birgt die riesige Chance, dass Lernen wieder Spass machen kann, zumal die individuellen Interessen ins Zentrum rücken. Nils Landolt ist Lehrer, ehemaliger Innovationsmanager, Catalyst für das Nachhaltigkeitsziel 4 (Bildung) bei Collaboratio Helvetica und gründet derzeit das LernHaus Sole zusammen mit seiner Frau. Sein Wissen verwebt er für eine zeitgemässe Bildung.

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