Lernen braucht keine Wände – brauchen wir dann noch Schulen?

Wie sieht der Lernort der Zukunft aus und braucht es dann noch Schulen?

Lernen wird vernetzter und mobiler. Aber wie sieht das aus? Dieser Artikel zeigt Lernkonzepte der Zukunft und wie diese auch unser Schulsystem verändern werden.

Lernen wird vernetzter und mobiler. Aber wie sieht das aus? Es bewegt sich wahrscheinlich irgendwo zwischen «kennen wir, erzähl uns was neues» und «das ist doch alles wahnsinnig». In manchen Schulen sitzen Kinder und Jugendliche wie Näherinnen zu Zeiten der Industrialisierung auf ihren Plätzen, blicken in eine Richtung und tun alle das gleiche, mit dem gleichen Ziel und vorne steht jemand, der Takt und Rhythmus vorgibt. Es impliziert Bildung vom Fliessband. Aber es gibt auch Schulen, an denen Kinder und Jugendliche dank zeitgemässer Lern- und Arbeitsformen sowie digitalen Helferchen lernen wann, wo, wie und mit wem es sinnvoll ist. Und es gibt vor allem ganz viel dazwischen. Meine persönliche Prognose findet Ihr am Ende des Artikels. Es lohnt sich also, ihn fertig zu lesen.

Digitale Transformation verlangt in erster Linie einen Weg, kein Ziel.

Die Spannweite von digitalen Transformationsprozessen ist unglaublich gross. Gerade in den Schulen verlangt es viel Mut und Überzeugungskünste, sich mit allen Stakeholdern auf die Reise zu begeben. Manche sind gut unterwegs, andere sind Pioniere und wiederum andere stehen ängstlich auf der Stelle und geniessen die naive Sicherheit.
Ich möchte daher an dieser Stelle sagen, dass ich hier kein Muster von Gegenwart und Zukunft aufzeigen möchte und auch nicht kann. Denn nur weil unsere Gesellschaft stetig Innovationen hervorbringt, welche das Lernen in und ausserhalb von Schulen disruptiv verändern könnten, heisst es nicht auch, dass sie sich deshalb langfristig als sinnvoll für die Bildung von Kindern und Jugendlichen erweisen. Agil mit Themen der Zukunft umzugehen, ist für uns Pädagogen nicht immer leicht. Vielleicht braucht aber die Schule gar kein konkretes Ziel für die Zukunft, sondern einfach einen Weg, den man intrinsisch motiviert und vor allem mutig beginnt zu gehen. Die Gesellschaft bietet so viele Leitplanken, dass sich ein Ziel letztlich von selbst ergibt, wenn man beginnt, diesen Weg zu gehen. Dieser Artikel versteht sich also nicht als prophetische Mutmassung, sondern vielmehr als Irritation zur Gegenwart und Motivation für die Zukunft.

Schule als mobil-flexibler Lern- und Arbeitsort

Erst durch die Industrialisierung verlagerten sich grosse Teile des Arbeitens von den ländlichen Regionen hin zu den Fabriken und in grössere Städte, welche sich speziell durch den wirtschaftlichen Aufschwung des 19. und 20. Jahrhunderts zu urbanen Zentren entwickelten. Fabriken und Produktionsstätten sind heutzutage weitestgehend automatisiert, wodurch unsere Arbeit immer administrativer wurde und sich eine Vielzahl an Arbeitsplätzen in Büros und Grossraumbüros verschob. Ausstattung und Grösse der Räumlichkeiten sind heute noch meist analog zu Status und Position im Unternehmen. Johann Weichbrodt, Alexandra Tanner, Barbara Josef und Hartmut Schulze (2015) zeigen dies deutlich anhand eines 5-Phasen-Modell zur mobil-flexiblen Arbeit auf: Arbeitsorte bewegten sich vom ländlichen Heimbetrieb zum urbanen Bürobetrieb, in dem Arbeiten immer flexibler und mobiler wird. Die Digitalisierung der Arbeit ermöglicht heute flexible Arbeitsorte: Zu Hause, im Café an der Ecke, unterwegs oder im Büro und Arbeit beginnt, sich mit Privatem zu vermischen. Diese Entwicklung der Arbeitsgeografie wird sich verzögert auf schulische Lernumgebungen übertragen, denn diese bildeten schon immer die Arbeitsräume der Menschen ab, die sie geschaffen haben.

Das klassische Schulzimmer

Jeder kennt es: Ein einheitlich gestalteter Raum, frontale Sitzordnung, damit der Blick in eine Richtung zentriert sein kann, einheitliche Lehrmittel, die grüne Tafel an der Stirnseite, von der Lehrperson angekreidet mit einem obligatorischen Unterrichtsstoff. Eine Tür und Wände, die das Lernen vor der Aussenwelt verschliessen und verstecken. So sehen wahrscheinlich auch heute noch die meisten Lernräume aus, vielleicht haben sie mittlerweile einen PC, einen Beamer und eine Leinwand – digitalisiert, aber nicht transformiert. Dieses Bild erinnert an Arbeitsszenarien der Industrialisierung und ist leider heute noch in vielen Schulen präsent. Auch die dort praktizierten Lernmethoden haben sich in vielen Fällen nur wenig weiterentwickelt.

Lernbüros und Ateliers

In den letzten 30-40 Jahren wurden die Wände in so manchem Lernraum verrückt, analog zu den Grossraumbüros, die man von grossen Unternehmen kennt. Das Lernen bekam Platz, um autonomer, flexibler, selbstorientierter und selbstbestimmter zu werden. Jeder verfügt über seinen eigenen Arbeitsplatz, lernt alleine, zu zweit, in der Gruppe, eben flexibel. Auch die Lernrhythmen verlagern sich immer mehr vom 45-Minuten-Takt zu grösseren Zeitgefässen im Wechsel zwischen Vermittlungs- und Selbstlernphasen.

Co-Learning-Spaces

Auch der Trend der letzten Jahre, das Co-Working-Space, findet Einzug in unsere Schulhäuser. Im «Co-Learning-Space» hat es zwar immer noch Wände, aber die Raumaufteilung ist noch flexibler geworden und unterteilt sich in verschiedene Zonen. Es gibt Zonen zum Präsentieren, zum Recherchieren, zum Experimentieren, zum Erholen und Pausieren, zum Diskutieren, zum Verweilen, zum Stehen, zum Sitzen, zum Liegen. Räumliche Übergänge sind möglichst fliessend, transparent und intuitiv gestaltet, um keine räumliche Selektion aufzuzeigen, wie man es von Schulen bislang kennt. Gearbeitet wird eher projektorientiert. Die Schüler wählen selbst, mit welchem Thema sie sich tiefgründig auseinandersetzten, recherchieren ihre Fachinhalte auf mobilen Endgeräten selbstständig, entscheiden, welche Mitschüler sie als Partner benötigen, welchen Lerncoach sie als Experten zu Rate ziehen oder suchen sogar Spezialisten ausserhalb der Schulräume auf, um ihre Ziele zu erreichen. Zeitgemässe Arbeitsmethoden wie Scrum oder Design Thinking finden ihren Platz in offener Projektarbeit unter Schülerinnen und Schülern.

MakerSpaces

Auch MakerSpaces halten vermehrt Einzug in die Konzepte der Schulen. Es geht darum, das Lernen vom pauschalen Lehrplan zu entkoppeln sowie intrinsisch und explorativ zu gestalten. Klassisches Handwerk vermischt sich mit digitalen Geräten, Maschinen und Medien, mit Sensorik und Robotik, mit Naturwissenschaften, Künstlerischem und Technischem.
Im Vordergrund steht, dass Lernende mit ihren eigenen Ideen und ihrer Kreativität selbst Prototypen und technische Lösungen gestalten, ohne Zeit- und Fachgrenzen. Dazu bringen sie eigene Ideen, Projekte, Fragestellungen und Probleme aus ihrem Alltag mit, die sie dort alleine und im Team aktiv lösen. Im Optimalfall ist das MakerSpace in der Schule immer und jederzeit zugänglich. Es ist ein Labor, das auch aufgesucht werden kann, wenn sich im Unterricht fachliche Fragestellungen ergeben, die einen lösungsorientierten Zugang verlangen. Das Making lebt von einer offenen Fehlerkultur und der Überzeugung, dass jede Idee wertvoll ist.

Schule wird Lebensraum

Betrachtet man die Arbeitsumgebungen grosser Unternehmen wie z.B. das neue Adidasgebäude in Herzogenaurach, den Apple-Park in Cubertino oder den Google-Campus in Mountain View, zeigt sich schnell, wo die Reise hingeht. Hierbei sollen keineswegs die Grösse dieser Arbeitsorte im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die aus Raum und Kultur resultierende Rhythmik des miteinander Arbeitens. Arbeitszeiten verschwinden und man arbeitet, wie man es mit Familie und Privatleben vereinbaren kann, egal ob werktags oder am Wochenende. Es ist das Ziel, Zonen zur Begegnung und einladende Umgebungen zu schaffen, an denen Mitarbeitende vielleicht sogar lieber ihre Zeit verbringen als zu Hause, an denen es vielleicht sogar mehr Angebot an Entspannung, Sport, Erholung, Freizeit, Ernährung und sozialem Miteinander gibt als sonst wo. Orte, an denen Menschen gerne arbeiten, an denen sie nicht nur wissen, was und wie sie etwas tun, sondern vor allem, warum sie etwas tun. Auch das Modell vieler Familien lässt es heutzutage fast nicht mehr zu, dass Kinder im Sommer 5-6 Wochen zu Hause sind, weil die Schule Sommerferien macht.
Diese räumlichen, kulturellen und rhythmischen Entwicklungen werden unsere Schulen erreichen bzw. haben bereits viele Schulen erreicht, die sich aktiv mit diesem Wandel auseinandersetzen.

Lernen braucht keine Wände – Braucht es dann noch Schulen?

«Kinder lernen nur in der Schule.» «Warum?» «Weil dort der Lehrer ist.» Dies ist natürlich ein Irrglaube. Menschen lernen immer und überall, selbst im Schlaf. Lernen funktioniert lehrer-, orts- und zeitunabhängig. Es gibt also neurologisch betrachtet keinen direkten Grund, zum Lernen in eine Schule zu gehen.
Wir konsumieren eine Vielzahl an Informationen, jeden Tag, immer und überall. Wir sind im kommunikativen Austausch miteinander, per Chat, Mail oder Social Network. Wir können jede Realität mittels Virtual- und Augmented Reality vor unsere Augen zaubern. Immer mehr digitale Geräte werden uns Lebensrealitäten an jeden Ort der Welt bringen können, nicht nur sichtbar, sondern zukünftig mit allen Sinnen wahrnehmbar.

Braucht es dann noch eine Schule? Einen zentralisierten Lernort, der für alle gleich ist?

Lernen in Netzwerken – Schule wird hybrid und permeabel

Ich glaube an einen hybriden Schulort. Es braucht ein Lernzentrum, eine Homebase. Aber Schule muss sich auch zur Aussenwelt öffnen und mobiles, informelles sowie vernetztes Lernen zulassen.

Lernen findet fast ausschliesslich im Dialog statt. Es verlangt neben all dem Fachlichen vor allem Sozial-, Methoden-, Digital- und Personalkompetenzen. Lernräume helfen uns dabei, diesen Dialog im Miteinander stattfinden zu lassen. Eine Schule braucht diverse und flexible Raumtypen. Sie braucht Ateliers zum Kreieren, Labors zum Experimentieren, Ruhezonen zum Entschleunigen, virtuelle Umgebungen, um jede Realität virtuell in den Lernraum zu projizieren und so vieles mehr.

Es wird zukünftig kein Einheitscurriculum mehr für alle geben, sondern für jeden einen massgeschneiderten Lernplan. Schüler werden in ihren Talenten gefördert und wirken in Projekten als Talents für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Die Co-Learning-Spaces bieten den optimalen Rahmen für Schüler-Start-Ups, in denen sich jeder einbringen kann, der von einem Projekt intrinsisch fasziniert ist. Zeitliche und inhaltliche Rahmen, wie Stundenpläne und Fächer, werden obsolet. Die Schulen werden 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche geöffnet und für Lernende zugänglich sein, um auch informell und im Team an Projekten arbeiten zu können.

Künstliche Intelligenzen werden uns helfen, die optimale Förderung für jeden Lernenden bereitzustellen sowie lernanalytische und administrative Aufgaben zur Entlastung zu übernehmen. Die Lerncoaches (Lehrpersonen) werden sich zukünftig intensiv auf die Tätigkeiten fokussieren, die künstliche Intelligenzen nicht ausüben können, weil sie pädagogische, psychologische, soziologische und neurologische Tiefe verlangen. Sie werden Zeit für die wichtigen Beziehungsprozesse und das Coaching der Lernenden zur Verfügung haben. Sie sind in ihrer Persönlichkeitsarbeit nicht wegzudenken und weiterhin wichtigster Bestandteil der sozialen Lern-Interaktionen jeder Schule und auch dafür ausgebildet. Lerncoach und Lernender vereinbaren eine wöchentliche Lernzeit, die in digitalen Tools geführt und dokumentiert wird. Arbeitszeit und Arbeitsort wählen sie in Absprache mit dem Coach selbst. Je ausgeprägter die Lernkompetenz des Lernenden sowie die Vertrauensbeziehung, desto freier und mobiler wird das Lernen. «Master of Learning» dürfen die Homebase Schule jederzeit in Absprache verlassen und ausserschulische Lernorte aufsuchen.
Ausserhalb der Schule organisiert sich das Mobile-Learning stark vernetzt über Social-Network-Plattformen. Auf diesen Plattformen gibt es Chats und Foren, damit sich die Lernenden gegenseitig oder mit dem Coach und Experten im Peer-Learning unterstützen können. Die Lernaufträge werden in Learning Cards geführt, dort sehen die Schüler ihre Ziele oder können sich per blended Learning Inputs von ihren Coaches abholen. Experten regionaler Unternehmen beteiligen sich an den Projekten der Lernenden, auch im Sinne von Talentscouting und Standortsicherung – die Schulen werden zu Generationenhäusern mit permeablen Wänden. Und ich freue mich drauf! 🙂

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Weichbrodt, J., Tanner, A., Josef, B., & Schulze, H. (2015). Die Entwicklung von Arbeitsflexibilität in Organisationen anhand des FlexWork-Phasenmodells, Wirtschaftspsychologie 4-2014/1-2015.

Philipp Zimmer ist Schulleiter und Schulentwickler. Er wirkte massgebend an der Entwicklung mehrerer Schulkonzepte mit. Dabei entstanden digitale Lernplattformen, die massgeschneiderte Tagesabläufe und Lernwege für Schülerinnen und Schüler ermöglichen. Er beschäftigt sich intensiv mit digitalen Transformationsprozessen im Bildungsbereich sowie zeitgemässen und zukunftsfähigen Lernkulturen.

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