Digitalisierung und Gesundheit: Körper und Psyche im Einklang

Vom Transhumanismus zu ethischen Ökosystemen: wie die Digitalisierung unsere Gesundheit verändert

Gesundheit ist ein Megatrend. Die Umwelt wird mithilfe von Technologie umgestaltet, denn der Mensch soll resilient werden. Aber kann er das, indem er sich von seiner eigenen Natur abkoppelt? Der Transhumanismus möchte den Menschen zu einem Supercomputer umbauen, der seelenlos Daten prozessiert. Um Autonomie und soziale Verbundenheit zu erhalten, muss man den Menschen radikal anders denken.

Gesundheit ist ein Wachstumsmarkt auf Expansionskurs. Mit über 300 Milliarden Bruttowertschöpfung machte die Gesundheitswirtschaft in Deutschland 2020 über 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung und zunehmender Zivilisationsleiden der wohlhabenden postindustriellen Gesellschaften sind die Prognosen für die Zukunft vielversprechend. Neben dem sogenannten ersten Gesundheitsmarkt, der die klassische Gesundheitsversorgung umfasst, ist dabei vor allem der zweite Gesundheitsmarkt interessant, der privat finanzierte Produkte und Dienstleistungen umfasst: freiverkäufliche Arzneimittel, individuelle Gesundheitsleistungen, Fitness und Wellness, Gesundheitstourismus, Sport und Ernährung. Dabei steigt der Umsatz von Digital Health-Produkten weiter an. 

Nicht nur der Staat, sondern auch Unternehmen haben Interesse daran, dass es Erwerbstätigen gut geht. Wenn Lebensqualität und Lebenserwartung gesteigert werden, ist dies eine Win-Win-Situation. Ein gut funktionierendes Gesundheitssystem ist nicht nur gut für jeden Einzelnen, sondern auch gut für die Wirtschaft. Erwerbsfähigkeit und Produktivität bleiben erhalten, wenn die Menschen aus eigener Kraft für ihren Unterhalt sorgen können, so das Credo des deutschen Bundesgesundheitsministeriums.

Groß angelegte Investitionen in die Gesundheit sind daher auch aus Eigeninteresse diverser Lobbygruppen von erheblicher Bedeutung. Sie bestimmen schließlich ganz maßgeblich, wie wir in Zukunft leben werden. Die Möglichkeiten für innovative Potentiale scheinen durch die aktuellen Technologien grenzenlos: Hightechprodukte in der Medizintechnik, neue Untersuchungsmethoden, personalisierte Therapien, E-Health, Telemedizin, Biosensoren, Gehirn-Computer-Schnittstellen. Sie versprechen uns mehr Sicherheit durch umfassende Prävention, bessere und schnellere Versorgung und individuell zugeschnittene Behandlungskonzepte. Möglich macht dies u. a. die immer professionellere Vernetzung und Sammlung und Auswertung von großen Datenmengen über Apps und digitale Plattformen und das gezielte Einsetzen von Künstlicher Intelligenz. Aber welchem Menschenbild folgen diese technologischen Innovationen eigentlich? Sollte wirklich alles, was möglich ist, auch gemacht werden? Neuerdings kommen Zweifel darüber auf, ob die fortschreitenden und immer tiefer gehenden Eingriffe in die menschliche Natur im Namen des Fortschritts wirklich unser aller Wohlbefinden dienen.

Transhumanismus: Biologie und Technologie verschmelzen

Transhumanismus bezeichnet eine Philosophie, die mithilfe der Technologie die biologischen Grenzen der menschliche Existenz überwinden und verändern will. Wir sollen mit Hilfe der Technologie stärker, schneller, sportlicher und intelligenter werden – ein neuer Übermensch, der Homo Deus, wird angekündigt. Das Symbol des Transhumanismus ist der Cyborg, der den Menschen darstellt, dessen Körper die ihn beengende Natur verlassen hat. Vertreten wird der Transhumanismus vor allem von einer technologischen Elite in Silicon Valley und von Parteien und Interessengruppen im angelsächsischen Raum. Von ihren Verfechtern wird sie als notwendige evolutionäre Weiterentwicklung und Fortschritt für die Menschheit, gar als Revolution dargestellt. Konkrete Vorstellungen sind die Ersetzung des obsolet gewordenen Homo Sapiens durch „Trans-Menschen“ oder „Post-Menschen“, die 500 Jahre alt werden. Transhumanisten träumen davon, den menschlichen Geist ins Unermessliche zu erweitern und den biologischen Körper ganz zu überwinden, um als elektronische Einheiten in Computer-Netzwerken zu leben, wo sie mit Anderen durch synthetische Gedankenströme kommunizieren.

„Im Transhumanismus verdichtet sich das negative Menschenbild zu einer Ideologie der Lieblosigkeit, in der der Mensch schlichtweg als suboptimales Auslaufmodell angesehen wird. In vollkommener Geschichtsvergessenheit (die Nazi-Eugenik liegt 80 Jahre zurück…) denkt man offen darüber nach, Menschen nicht nur durch Maschinen zu optimieren und zu kontrollieren, sondern an ihren Körpern zu experimentieren, um sie zu verbessern, zu erneuern bzw. auf eine vermeintliche höhere Evolutionsstufe zu bringen.“

(Sarah Spiekermann: Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert)

Diese Ideen sind nicht neu. Schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit träumten die Europäer vom ewigen Leben. Die gerade im Entstehen befindliche Wissenschaft und die Vernunft sollten dabei helfen, dieses große Projekt zu erreichen: die Verlängerung des Lebens und zugleich die Verbesserung der menschlichen Spezie. Zahlreiche Philosophen haben sich mit der menschlichen Unzulänglichkeit beschäftigt und Wege gesucht sie zu überwinden. Was hat damalige und heutige Zukunftspropheten zu diesen Überlegungen bewogen? Es ist der Kampf gegen die der gesamten Natur innewohnende Vergänglichkeit, die auch Schriftsteller und Künstler inspiriert, dem ein ewiges Konstrukt entgegenzusetzen. Erreicht werden soll damit die Kontrolle über die Zeit. Der Futurismus des 20. Jahrhunderts hob dieses Gestaltbarkeit der Zeit in der Moderne auf eine neue Stufe: der Rausch der Geschwindigkeit, erfahrbar durch die technologischen Neuerungen der Maschinen, die sowohl Machtekstase als auch gesellschaftlichen Fortschritt versprachen. Der anglo-amerikanische Traum wurde geboren, die Biologie mithilfe revolutionärer Wissenschaft und Technologie zu verändern. Ideen wie die Kolonialisierung des Kosmos, chemische Erweiterung der menschlichen Sinne oder das Züchten von synthetischen Organen bahnten sich zunächst als Schiene Fiction-Phantasien ihren Weg in die zivilisatorische Gesellschaft.

Viele dieser Phantasien sind heute dank modernster Technologie umsetzbar. Wissenschaftler arbeiten im Auftrag von Militär und Politik daran, die Menschheit 1.0 mit der Menschheit 2.0 abzulösen – Cyborgs, intelligente Roboter und genetisch veränderte Babys können Vertreter dieser Spezie sein, die die biologischen Grenzen überschreiten. Diese Vision weitreichender Verschmelzung von Technologie und dem Menschen jagt Vielen zu Recht Angst ein. Denn die wohlklingende Ideologie des Transhumanismus verschleiert fragwürdige und gefährliche Praktiken, die schon heute teilweise zum Zuge kommen. So können technologische Implantate nicht nur für die Gesundheit, sondern als Waffe verwandt werden. Gehirn-Nanoroboter können potentiell zum Verlust der Gedankenkontrolle führen, so dass die Träger von anderen kontrollierbar werden und ihre Autonomie verlieren. Menschen können über das zerebrale Internet permanent ausspioniert werden und ihre Privatsphäre verlieren, ihr Gedächtnis kann gelöscht werden und sie können ihre Identität verlieren. In dieser dystopischen Vorstellung werden Menschen zu Sklaven im Dienste transnationaler Unternehmen und Wirtschaftsmächte, die alleinig die technologische Macht in den Händen halten. Ist der Transhumanismus also nur ein „intellektueller Schwindel“, der zum „digitalen Faschismus“ führt? 

Self-Engineering und Autonomie: Wenn Daten auf Gefühle treffen

Vieles wird darauf ankommen, wie gut es die post-industriellen Gesellschaften verstehen, wirksame Tech-Regulierungen und Kontrollmechanismen auf den Weg zu bringen, die wachsende Ungleichheit in den Griff zu bekommen und die derzeitigen Verlierer von Globalisierung und Digitalisierung am Wohlstand zu beteiligen. In der Realität der Automatisierung konkurrieren Arbeiter, die von Robotern und Algorithmen ersetzt werden, bereits mit der transhumanistischen Welt. Dabei kommen sie sehr schlecht weg. Entweder sie verlieren ihre Jobs und finden keine neuen, weil sie nicht die Zeit und Möglichkeiten haben, sich entsprechend für höher qualifizierte Jobs weiterzubilden. Oder sie arbeiten in fast komplett automatisierten Umgebungen, wo sie sich der oft unmenschlichen Logik der Algorithmen unterwerfen müssen – Autonomie, Bedeutung und Achtsamkeit für die Gesundheit gehen hier verloren. Statt der gesellschaftlich angestrebten Inklusion wird stattdessen Ausgrenzung im Namen von Effizienz geschaffen. 

Vernunft und Intelligenz, die uns in der Aufklärung einst aus den Zwängen der Kirche befreiten, scheinen uns also in neue Abhängigkeitsverhältnisse zu stürzen. Woran liegt das? Viele Vorstellungen der Transhumanisten muten naiv an, weil sie den Menschen oft mit einer Maschine gleichsetzen. Wenn es nach den Transhumanisten geht, sollen schlechte Gefühle und Leiden jeglicher Art der Vergangenheit angehören, denn transhumane Wesen sollen dauerhaftes Wohlbefinden genießen. Alles Überflüssige wird dann wie technische Störfälle aus dem materialistischen Fluß des Lebens auf dem Weg zu immer neuen Upgrades beseitigt sein. Wer aber entscheidet, was überflüssig ist? Und wenn der Mensch nie mehr schlechte Gefühle hat, wie soll er dann überhaupt Entscheidungen im sozialen Leben treffen können und wozu? Und was passiert, wenn die Upgrades ihrerseits neue Leiden erzeugen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können? 

Im transhumanistischen Weltbild werden alle Probleme, sei es physisch, intellektuell oder psychologisch, auf technische Probleme reduziert und somit als potentiell durch die Vernunft lösbar gedacht. Persönliche Entwicklungen durch Krisen, Einflüsse des psychosozialen Umfelds, Widersprüchlichkeiten im individuellen Charakter, spirituell-transzendente Erfahrungen, Täuschung der eigenen Selbstwahrnehmung und die Unzulänglichkeit und Widersprüchlichkeit logischer Operationen werden schlicht ignoriert. Self Engineering löst das Natürliche als moralische Kategorie ab. Körperliche Autonomie und klassisch-bürgerliche Werte wie Tugend, Fleiß und Liebe werden durch technologische Manipulation und Reizerfüllung ersetzt. Laut Leon Kass, einem bekannten Kritiker von Transhumanismus und Bioengineering, birgt dieser universell-rechnerische, datenzentrierte Ansatz die Gefahr, dass die Natur und die Menschen endlos manipuliert werden. Statt die Endlichkeit und Grenzen des Individuums als Strukturen von Bedeutung und Identität anzuerkennen, werden sie als Mängel wahrgenommen, die beseitigt werden müssen. Wo bleibt das emphatische Subjekt in dieser Zukunft?

Kritischer Posthumanismus: Ökosysteme ethischer Verbundenheit

Das emphatische Subjekt weiß um die eigene Verwundbarkeit und die seiner Spezie. Es schätzt die Differenz höher ein als die etablierte Norm. In der Abweichung vom Ideal erkennt es marginalisierte Perspektiven, die bereichernd wirken. Die Differenz entsteht dabei durch gemeinsame Denkprozesse, nicht durch gemeinsame Formen. Der Posthumanismus ist damit eine radikale Abkehr vom traditionellen souveränen und kohärenten Menschen. Stattdessen wird der Mensch als immer schon verwoben mit vielfältigen Lebensformen und Maschinen gedacht, von denen er gleichermaßen konstituiert wird und sie selbst konstituiert. Er teilt Ökosysteme und Lebensprozesse mit Tieren und anderen Lebensformen. Dabei befindet er sich in einem dauerhaften Prozess der Werdung, wobei er ständig neue Impulse aus seinem Umfeld bekommt, die ihn weiterentwickeln. Gleichzeitig gestaltet er die Umwelt als Schnittstelle um.

„Als eine Form des vitalen Materialismus wendet sich die posthumane Theorie gegen die Arroganz des Anthropozentrismus und den „Exzeptionalismus“ des Menschen als transzendentale Kategorie. Sie geht stattdessen eine Allianz mit der produktiven und immanenten Kraft des Zoe oder des Lebens in seinen nicht-menschlichen Aspekten ein. Dies erfordert eine Veränderung unseres gemeinsamen Verständnisses davon, was es bedeutet, überhaupt zu denken, geschweige denn kritisch zu denken.“ 

(Rosi Braidotti: The Posthuman)

Der kritische Posthumanismus lehnt den Menschen als dominante Lebensform ab und konzentriert sich auf die Identität zwischen den Spezies. Binäre Oppositionen zwischen Natur und Kultur werden abgelehnt. Statt auf transzendentale Ideale wird die Aufmerksamkeit auf immanente historische Prozesse gelenkt. Technologie ist keine bloße Prothese der menschlichen Identität, sondern ein integraler Bestandteil davon. Im Zentrum steht die Vorstellung des nicht-einheitlichen Subjekts, die klassische humanistische Begriffe wie die Ratio in Frage stellt. Perspektiven vom Rande des zentralen kulturellen Narrativs wie z. B. indigenes Wissen werden verstärkt in den Fokus genommen. So ist es möglich, sich mehrere Welten vorzustellen, die unabhängig voneinander existieren, aber gleichberechtigt miteinander interagieren, ohne dass sie in Konkurrenz um die eine Wahrheit stehen. Individuelle Wahrheit wird zur Vermessung kognitiver Erfahrung, die keinen Allgemeinheitsanspruch hat. Anhänger des kritischen Postkumanismus sind vor allem Vertreter der Disziplinen des Poststrukturalismus, des Feminismus, der Geschlechterforschung und der postkolonialen Studien, die erfolgreich darauf aufmerksam machten, dass Subjekte und Wissen sozial konstruiert und daher verzerrt sind.

Was unterscheidet den kritischen Posthumanismus vom Transhumanismus? Statt hyperindividualistischer Selbstoptimierung, die in ein gleichgeschaltetes Kollektiv mündet, geht es um neue Möglichkeiten des Community Building, ethische Formen der Zugehörigkeit und ein erweitertes Verständnis einer immanenten Lebenskraft, die über die menschliche Gemeinschaft hinausgeht und -wirkt. Während der Transhumanismus den Tod überwinden oder gar abschaffen will, integriert der Posthumanismus den Tod ins Leben, indem er beide nicht als getrennte Konzepte denkt. Der Tod ist nicht das Ende und auch keine Bedrohung, sondern das Zentrum des Lebens, mit dem die Menschen immer schon synchronisiert sind. Indem wir den Tod buchstäblich seit der Geburt in uns tragen, werden wir unserer Vergänglichkeit gewahr, die uns mit allen Anderen verbindet. Dieses körperliche Fühlen der Vergänglichkeit erst macht es uns möglich, unsere ureigene Verwundbarkeit zu erleben, aus der die Verantwortung zum Erhalt des Lebens erwächst.

Fazit zu Digitalisierung und Gesundheit

Was bedeutet das nun für das Wohlergehen des Einzelnen und für uns als Gesellschaft? Gesundheit ist ein zweischneidiges Schwert. Während die Einen Gesundheit durch immer mehr Überwachung und normierte Kontrolle im großen Stil gewährleistet sehen, betonen Andere das Recht auf ein persönliches Verständnis von körperlicher Integrität und ganzheitlich-natürliche Aspekte von Lebensqualität und Heilung. Auch wenn Gesundheit für jeden etwas anderes bedeutet, sollte dennoch klar sein, dass nur ein gesunder Geist in einem gesunden Körper gedeihen kann. Dies wird sicherlich nicht durch eine übertriebene Sicherheitskultur oder öffentliches Moralisieren über vermeintliche Verfehlungen erreicht. 

Um ein gesundes Zusammenspiel von Körper und Psyche zu gewährleisten, müssen wir das gute Leben in unserer Gesellschaft wieder stärker kultivieren: soziale Zusammenkünfte und Gemeinschaften fördern, künstlerische und kreative Freiräume schaffen, Erholung in der Natur und sportliche Betätigung unterstützten und positive Erfahrungswelten schaffen. Das Gesundheitssystem und Unternehmen sollten stärker Vorsorge und psychische Gesundheit in den Fokus nehmen und den Menschen Möglichkeiten an die Hand geben, dauerhaft ein gesundes Leben zu führen und mit Krisensituationen individuell besser umgehen zu können. 

Technologie kann dabei eine Hilfe sein, aber sie kann auch zur Gefahr werden, wenn sie unsere Autonomie einschränkt oder uns statt in unseren Entscheidungen zu unterstützen uns durch Anreize in gesellschaftlich gewollte Richtungen „schubst“, die unserem inneren Empfinden widersprechen. Neben den vielen neuen Errungenschaften, die uns die Technologie beschert, kann sie uns niemals unser mentales Gleichgewicht geben – dies liegt allein in der Verantwortung jedes Einzelnen.

Simone Belko is a media scientist and European studies scholar with a strong focus on digital literacy. With experience in journalism, PR, marketing, IT and training she has excelled in Germany and abroad. As a manager for digital products in the online games and FinTech industry she gained deep insights into online platforms and communities. Simone is the author of "Digital Consciousness" ("Das digitale Bewusstsein") and currently works at Otto GmbH, leveraging her expertise in business transformation.

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