Der Welthandel leidet – Kann Automatisierung Abhilfe schaffen?
Der Welthandel leidet unter Fachkräftemangel, Inflation und Lieferkettenengpässen - Doch wie kann Technologie helfen?
Während die Welt von den USA bis China in Rekordtemperaturen schwelgt, können sich die geplagten Bürger zumindest auf das unvermeidliche Ende des Sommers und die Ankunft des nebligen, fruchtbaren Herbstes freuen. Für die Weltwirtschaft ist eine solche Erleichterung leider nicht in Sicht.
Zu Beginn des Jahres gab es Grund zu vorsichtigem Optimismus, als sich die Engpässe in den Lieferketten der vergangenen achtzehn Monate zu entspannen begannen. Dann beschloss Russland, in die Ukraine einzumarschieren. Im April verzeichnete der vierteljährliche Index of Global Health von Tradeshift den stärksten Rückgang des Transaktionsvolumens im Euro-Raum seit Beginn der Pandemie. Gleichzeitig war die weltweite Produktionstätigkeit um 25 Prozent geringer als erwartet.
Drei Monate später mehrten sich die Anzeichen, dass die Weltwirtschaft in eine Rezession abrutscht. Die Auftragsvolumina auf der Tradeshift-Plattform sind im zweiten Quartal in Folge gesunken, und zwar um weitere sechs Punkte gegenüber der erwarteten Spanne.
Dieser Mangel an neuen Aufträgen beginnt sich auf die Lieferanten auszuwirken. Das Rechnungsaufkommen auf der Tradeshift-Plattform ist im zweiten Quartal um 7 Punkte gesunken. Dies ist der stärkste Rückgang seit einem Jahr und das erste Mal seit dem Lockdown, dass es einen Rückgang dieser Größenordnung sowohl bei den Aufträgen als auch bei den Rechnungen im selben Quartal gibt.
Index
Globale Warnung
Auffallend am Index für das zweite Quartal ist das nahezu einheitliche Muster der sinkenden Transaktionsvolumina in den meisten der größten Volkswirtschaften der Welt. Die Lieferkettenaktivität im Euro-Raum und in den USA ging im zweiten Quartal in Folge zurück, und zwar um 5 bzw. 4 Punkte, während die Aktivität im Vereinigten Königreich ebenfalls um weitere fünf Punkte gegenüber dem prognostizierten Bereich zurückging.
Diese globale Warnung läuft Gefahr, von einem noch wichtigeren wirtschaftlichen Thema überlagert zu werden: der Inflation. Die Auftragslage mag sich abschwächen, aber die Analyse von Tradeshift zeigt, dass die Kosten seit Anfang des Jahres stark gestiegen sind. Der durchschnittliche Wert einer auf der Plattform von Tradeshift eingereichten Rechnung ist seit Anfang 2022 um 11 Prozent gestiegen, verglichen mit einem bescheideneren Anstieg von 3,5 Prozent im Jahr 2021.
Die Inflation hat viele Ursachen, von denen viele für das ungeübte Auge offensichtlich sind. In der gesamten Weltwirtschaft kommt es immer wieder zu Unterbrechungen der Versorgungskette. Covid-19-Fälle in China und die Verhängung von Abriegelungsmaßnahmen verursachen weiterhin Probleme. Unsere Daten zeigen, dass die Lieferkettenaktivität in der gesamten Region im zweiten Quartal um weitere 7 Punkte unter den erwarteten Bereich gesunken ist. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine erhöhte den Druck weiter, insbesondere auf die Energie- und Lebensmittelpreise.
Abschied von billigen Arbeitskräften
Einige der aktuellen Herausforderungen für die Lieferketten sind vorübergehend. Einem Bericht der niederländischen Finanzdienstleistungsgruppe ING zufolge könnte die US-Inflation ihren Höhepunkt bereits überschritten haben. Es wäre jedoch falsch, die strukturellen Veränderungen in der Weltwirtschaft zu ignorieren, die bedeuten könnten, dass die Inflation ein wiederkehrendes Problem bleibt.
Die Verbindung zwischen Arbeitskräftemangel und Lohninflation ist ein gutes Beispiel dafür. Unternehmen nähern sich dem Ende der goldenen Periode billiger Arbeitskräfte, die in den 1980er Jahren begann, als Osteuropa und China sich den internationalen Märkten öffneten und die Babyboomer ihre Karriere fortsetzten. Dieser Zustrom von Arbeitskräften hielt die Inflation niedrig und beseitigte den Anreiz, in die Automatisierung zu investieren, sodass arbeitsintensive manuelle Prozesse auch heute noch ein Merkmal vielerorts in der Arbeitswelt sind.
Dieser Zyklus neigt sich dem Ende zu. Die USA sind eines von mehreren westlichen Ländern, die mit der Aussicht auf einen schrumpfenden Arbeitskräftepool konfrontiert sind. In den 1990er Jahren wuchs die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den USA um etwa 1,3 Millionen pro Jahr. Im kommenden Jahr wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter voraussichtlich nur noch um 400.000 Personen wachsen. Kein Wunder also, dass es trotz der sich abzeichnenden Rezession immer noch mehr offene Stellen gibt als Bewerber, die sie besetzen können.
Es gibt nicht nur weniger Arbeitskräfte, sondern die Berufsanfänger stellen auch härtere Anforderungen an die Art der Arbeit, die sie zu leisten bereit sind.
Automatisierung: kein Luxus mehr
Viele Unternehmen untersuchen die Engpässe in ihrer Lieferkette und stellen fest, dass es keine Option mehr ist, diese Probleme mit mehr Personal zu lösen. Laut einer aktuellen Gartner Studie planen 78 Prozent der Führungskräfte Investitionen in die Automatisierung, um die Auswirkungen des künftigen Arbeitskräftemangels abzumildern.
Automatisierung mag kein Luxus mehr sein, aber sie ist auch kein Allheilmittel. Das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit wurde durch den Einsatz von Technologie vorangetrieben, aber es ging nie darum, Menschen durch Maschinen zu ersetzen. Es handelte sich um eine ganzheitliche Strategie. Sie zielte darauf ab, dass sich ein begrenztes Arbeitskräftepotenzial auf die Erbringung einer höherwertigen Leistung konzentrieren konnte. Noch heute gibt es in Deutschland mehr Industrieroboter pro Kopf der Bevölkerung als in jeder anderen westlichen Volkswirtschaft. Deutschland hat auch den höchsten Anteil junger Menschen in der Ausbildung und ein hohes Pro-Kopf-Engagement für lebenslanges Lernen.
Lange Zeit in erster Linie als Mittel zur Senkung der Gemeinkosten betrachtet, entwickelt sich die Automatisierung immer mehr zu einer Schlüsselkomponente des langfristigen Risikomanagements und der Belastbarkeitsplanung in globalen Lieferketten.
Autor: Christian Lanng, CEO von Tradeshift
Die Kommentarfunktion ist geschlossen.