New Work und Retention Management im Gesundheitswesen
Eine Antwort auf den Personalnotstand im Gesundheitswesen
Zahlen belegen, dass dem Gesundheitssektor in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine dramatische Versorgungslücke droht, die das Wohl von Menschen gefährdet. Um neues Personal gewinnen und das bisherige Personal halten zu können, sind Verbesserungen der Arbeitsbedingungen vor allem auch in der Pflege nötig.
Index
Eine Profession am Limit
Zahlen belegen, dass dem Gesundheitssektor in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine dramatische Versorgungslücke droht, die das Wohl von Menschen gefährdet. Um neues Personal gewinnen und das bisherige Personal halten zu können, sind Verbesserungen der Arbeitsbedingungen vor allem auch in der Pflege nötig. Wichtige Stichworte sind hier eine höhere Bezahlung, geringere Arbeitsbelastung, mehr Anerkennung und Möglichkeiten zur Weiterbildung und -entwicklung. Wir müssen aber auch die weiteren Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen in den Blick nehmen. Und dazu gehört es, endlich die grossen Chancen, die uns digitale Technologien bieten, im Sinne der Entlastung von Pflegekräften zu nutzen (M. Burhart, PwC 2022 und eigene Erhebung, Reifegradbestimmung Schweizer Pflege 2021).
Mit Blick auf die Schweiz
Der vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium Obsan publizierte Bericht rechnet – in einem mittleren Szenario – damit, dass bis 2029 rund 20’000 Pflegende sämtlicher Ausbildungsstufen fehlen werden. Die gestiegenen Ausbildungszahlen reichen somit bei weitem nicht aus, um die Lücke zu schliessen. Eine Langzeitstudie des ZHAW-Instituts für Gesundheitswissenschaften als Teil des Competence Network Health Workforce kommt zum Schluss: Mit besseren Arbeitsbedingungen und Karrierechancen können Pflegende länger im Beruf gehalten werden. Neun von zehn diplomierten Pflegenden sind bereit unter besseren Arbeitsbedingungen in den nächsten zehn Jahren in der Pflege zu arbeiten. Mehr als die hälfte der 600 befragten Pflegefachpersonen gaben an, sich bei der Arbeit oft müde und überlastet zu fühlen. Rund ein Drittel gab an, dass eine Vollzeitanstellung körperlich und psychisch zu anstrengend wäre. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Zeit für das Privatleben zu haben, sind die beiden wichtigsten Punkte, welche sich vor allem bei der Dienstplangestaltung wiederfinden müssen laut René Schaffert Projektleiter der erwähnten Längsschnittstudie 2011 – 2019. Erforderlich wären mehr Regelmässigkeit sowie Berücksichtigung individueller Dienstplanungswünsche. In der Realität können diese Erwartungen häufig nicht erfüllt werden. Diese Diskrepanz korreliert mit der beruflichen Zufriedenheit und dem Gedanken zum Berufsausstieg. Tiemessen und sein Team in einem Innosuisse-Projekt zur Dienstplangestaltung für Pflegende mit dem Martkführer Polypoint und dem Kantonsspital Aarau als Partner suchen eine Lösung zur intelligenten und partizipativen Dienstplangestaltung als Antwort auf den Pflegekräftemangel. Die entwickelte Softwarelösung verbindet die Bedürfnisse der Mitarbeitenden mit Dienstplanvorschläge für einen attraktiveren Dienstplan im Schicht- und Wochenenddienst. Ziel ist es, Pflegende durch eine passgenaue und gerechte Personalbesetzung zu entlasten und den Verbleib im Beruf dadurch zu fördern (D. Last et al., Ost/ Forschung, 2021). Eine Diskrepanz zeigte sich auch beim mittelgewichteten Lohn und den Möglichkeiten die eigenen Fähigkeiten im Job auszuschöpfen. Als wesentliche Faktoren zur Attraktivität des Pflegeberufs werden Anerkennung u.a. durch den Lohn und die Unterstützung durch das Management genannt. Gewünscht sind eine höhere Sichtbarkeit der Leitungspersonen sowie eine offene und transparente Kommunikation (T. Hänni, 2021).
Mit Blick auf Deutschland
Die Covid19-Pandemie hat gezeigt, dass viele Krankenhäuser bereits an der Grenze ihrer Belastbarkeit arbeiten. Weniger als ein Drittel der Ärzt:innen und Pflegekräfte mit leitender Tätigkeit in Deutschland planen bis zur Rente den derzeitigen Beruf auszuüben (M. Burkhart et al., PwC, 2022).
Ursachen der Fluktuation und kurzen Verweildauer im Pflegeberuf
Während der Covid19-Pandemie haben Pflegeberufe zwar in der Öffentlichkeit einen deutlichen Imagegewinn verzeichnen können, weil sich gezeigt hat, wie systemrelevant Pflegefachkräfte sind und was sie täglich leisten. Gleichzeitig fällt aber auf, dass die Innensicht vergleichsweise negativ geprägt ist, wie die Civey-Befragung im Auftrag von PwC belegt. Der Beruf gilt als körperlich und seelisch sehr anstrengend und belastend. Lediglich 28,4 Prozent stimmen der Aussage zu, dass man in dem Berufsfeld Menschen helfen kann. Für Pflegende, welchen den Beruf mit einer hohen intrinsischen Motivation und zumeist aus Überzeugung gewählt haben, ist das offensichtlich nicht mehr stimmig (M. Burkhart et al. PwC, 2022). Eine mangelnde Anerkennung der Pflege zeigt sich auch darin, dass pflegerische Tätigkeiten nicht oder nur in untergeordnetem Masse bei Abrechnungen relevant sind.
New Work als neue Rahmen- und Arbeitsbedingungen
Der anfängliche Idealismus ist durchaus vorhanden, er geht aber offenbar mit der Berufspraxis verloren und muss einem realistischeren Bild von Pflege weichen, das durch schlechte Arbeitsbedingungen geprägt ist. Die deutliche, nachhaltige und messbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen soll zu einer Steigerung der Verweildauer im Beruf und zu einer höheren Arbeitgeberattraktivität beitragen. Echte Wertschätzung zeigt sich nicht in kurzfristigem Applaus in Krisensituationen, sondern ist gebunden an die Einsicht, welchen Beitrag professionelle Pflege zu Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen in unserer Gesellschaft leistet und welche Investitionen erforderlich sind, um diesen Schatz zu heben (B. Klapper, PwC, 2022). Der New Work Ansatz mit partizipativen und/ oder holokratischen Ansatz ermöglicht mehr Mitbestimmung und Anerkennung. Mit New Work gehen Veränderungen einher, durch die Menschen sich selbst verwirklichen und zugleich ihre Potenziale entfalten können. Diese Veränderungen werden oftmals mit Schlagworten wie: Work-Life-Integration, Flexibilisierung von Arbeit, Agilität oder sinnstiftende Arbeit beschrieben. Dabei wird bereits deutlich, dass New Work keineswegs nur auf die Digitalisierung von Arbeitswelten beschränkt werden darf (T. Dauth, S. Kilz, IMW 2021).
New Work beschreibt vielmehr eine umfassende Transformation von Arbeitserbringung, Arbeitsweisen, Arbeitsorganisation und Unternehmensführung (J. Hofmann et al, 2019). Der Fachkräftemangel in dieser Branche wird sich in den kommenden Jahren durch den demographischen Wandel und die steigende Anzahl an alten, multimorbiden Menschen noch zuspitzen. Somit ist eine umfassende Transformation in der Arbeitsorganisation und in der Unternehmensführung in der Pflege von enormer Bedeutung (T. Dauth, S. Kilz, IMW, 2021). Die vom Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie IMW beschriebenen Dimensionen lauten: Individualität, Führung, Sinnstiftung, Flexibilität und Vergütung (Work-Life-Balance) und Technologie/ Digitalisierung. Nachfolgend finden sich Umsetzungsvorschläge.
Implementierung von New-Work-Kriterien und Holokratie
Erfolgversprechende Umsetzung
- Feedback- und Fehlerkultur, konstruktives Feedback unterstützt Optimierungsprozesse und schafft bei einem offenen wie auch respektvollen Umgang miteinander eine gute Vertrauensbasis für die Zusammenarbeit.
- Akzeptanz und Weiterbildung als Enabler für Veränderungen, Führungskräfte stehen hinter dem Wandel, Mitarbeitende werden befähigt und miteinbezogen. Digitale Kompetenzen müssen erlernt werden.
- Regelmässige Mitarbeitendengespräche zur Motivation, Arbeitsbelastung und Weiterentwicklung.
- Bedarfsanalyse: Durch die softwaregestützte Analyse eines Arbeitstages lassen sich Arbeitsspitzen identifizieren und daraus neue Arbeitszeiten und Schichtpläne (unter Berücksichtigung der benötigten Qualifikationen) erarbeiten.
- Digitalisierung von Prozessen, technische Tools, die für die Arbeitsorganisation in der Pflege. Durch automatisierte Vorgänge können u. a. Synergien in der Datenerhebung geschaffen und Prozesse (z. B. die Dienstplanung) optimiert werden (T. Dauth, S. Kilz, IMW, 2021).
- höhere und leistungsorientierte Löhne, z. B. Zulagen für das Einspringen
- familienfreundlichere Arbeitszeiten/ -modelle.
- Gewinnung und Erhalt von Pflegekräften mit entsprechender Positionierung und Image des Unternehmens im Arbeitsmarkt.
- Aus- und Weiterbildung sowie Zugang verbessern, nötige Datenkompetenzen ausbauen.
- flexible Karrierewege ermöglichen.
- Abbau von Bürokratie, durch digitale Pflegedokumentation lassen sich bis zu 60 Minuten pro 8 Stundenschicht für die eigentliche Mensch-zu-Mensch Tätigkeit einsparen (eigene Erhebung zur digitalen Dokumentation, 2021).
Retention Management und Handlungsempfehlungen
Was können Krankenhäuser und andere Einrichtungen im Gesundheitswesens tun, um ihre Belegschaft langfristig an sich zu binden?
- Bessere Bezahlung und Leistungsvergütung
- Verringerung der seelischen Belastung
- Abbau der körperlichen Belastung mit angemessener personeller Ausstattung
- bessere Arbeitszeiten/ -modelle
- berufliche Perspektiven, stetige und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten auch auf Hochschulniveau
Digitale Transformation und Entlastung – zukünftige Positionierung
Einen Beitrag zur Entlastung des Personals, insbesondere bei administrativen Tätigkeiten, kann die digitale Transformation leisten. Mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen und der Pflege wird eine Qualitätsverbesserung und gleichzeitig eine Kostenreduktion angestrebt. Die dezentrale Mehrfachdatenerfassung soll durch einen zentralen und gesicherten Zugriff der Gesundheitsfachpersonen ersetzt werden (A. Hitz, 2022). Dadurch lassen sich folgende Potenziale erschliessen:
- allgemeine Entlastung des Arbeitsalltags
- intensivere Kommunikation in der Belegschaft
- verbesserte Patientensicherheit
- höhere Versorgungsqualität
- bessere Transparenz zu den Kostenträgern: Diese können dadurch helfen Pflegeleistungen höher zu entlohnen und in der Transformationsphase zur Digitalisierung Kosten zu tragen.
Es müssen Anreize zur ressortübergreifenden und standardisierten Digitalisierung gesetzt werden. Vergütungssysteme welche sich an der Qualität der medizinischen und pflegerischen Leistung orientieren statt nur an Volumen und Pauschalen, können erstellt werden. Die Bereitschaft und die Einsicht, dass Digitalisierungsvorhaben berufsübergreifend entlang von Patientenpfaden und nicht ausschliesslich innerhalb von Organisationen erfolgen, gilt es zu forcieren (J.-N. Kramer 2022). Die Digitalisierung in der Pflege unter dem Begriff Nursing 4.0 bietet mit Technologien wie Big Data, Robotik oder Künstlicher Intelligenz eine Entlastung im Pflegealltag sowie bessere Versorgung. Richtig eingesetzt, ermöglichen sie neue Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten, verbessern die Kommunikation und erleichtern die Auswertung von Daten. Die digitale Transformation des Gesundheitswesens muss dringend vorangebracht werden (M. Burkhart, PwC, 2022). Dazu gehört auch eine bessere sektorenübergreifende Vernetzung mit anderen Leistungserbringenden. Proprietäre Insellösungen der aktuellen Pflegeapplikationen benötigen einen einheitlichen Standard mit modularem Einschluss und müssen regelmässig auf Qualität geprüft werden. Der digitalisierungsgrad in der Schweizer Gesundheitsbranche beträgt 44 Prozent. Nur ein Drittel der Schweizer Pflegeheime und Spitex (ambulante Pflege) besitzen eine Digitalisierungsstrategie (B. Vogel et al., CSS im Dialog, Digitalisierung im Gesundheitswesen, Landkarte, 2022). Im internationalen Vergleich ist die Schweiz bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen nach wie vor auf den hinteren Rängen zu finden. Faxübermittlungen von gelegentlich schlecht lesbaren Medikamentenverordnungen, viel Papier und redundante Erfassungen gehören weiterhin zum Alltag. Eine zentrale Plattform für das Speichern und Teilen von Daten fehlt (A. Hitz, 2022). Risiken: Die Gefahr besteht, dass einzelne Prozesse digitalisiert werden, aber nicht in die Gesamtdigitalstrategie eingebunden sind. Dann wird aus einem schlechten Prozess leicht ein schlechter digitaler Prozess, der dem Personal keine Entlastung bringt (M. Burkhart et al., PwC, 2022).
Unternehmen buhlen um Fachpersonen – Arbeitgebermarke und Handlungsfelder
Die Fluktuationskosten mit Kosten der Personalgewinnung und Einarbeitungsphasen übersteigen bei weitem die Kosten einer innerbetrieblichen Förderung besserer Arbeitsrahmenbedingungen zur Personalbindung (eigene Masterarbeit, 2011.) Der Wettbewerb um Fachkräfte im Gesundheitswesen wird sich verschärfen. Damit sich Gesundheitsbetriebe auch zukünftig gut positionieren können, wird es laut PwC Studie wichtiger, in ihr Personalmanagement zu investieren und eine positive Arbeitgebermarke aufzubauen (M. Burkhart et al., PwC, 2022).
Dabei gibt es drei zentrale Handlungsfelder:
- das Recruiting neuer Fachkräfte
- die Bindung der bestehenden Belegschaft
- Ausbildung von Nachwuchskräften
Zu guten Arbeitsbedingungen zählen berufliche Perspektiven, flexible und familienfreundliche Arbeitszeiten (z. B. durch softwaregestützte innovative Arbeitsmodelle), ein leistungsgerechtes Gehalt und mehr Anerkennung. Daher werden Angestellte in Zukunft den Unternehmen den Vorzug geben, die attraktivere Rahmenbedingungen bieten. Denkbar ist in diesem Rahmen auch, die Aufgaben unter den einzelnen Professionen neu zu verteilen. Pflegekräfte könnten von Aufgaben entlastet werden, die geringer Qualifizierte ausüben können, und beispielsweise als Advance Practice Nurse APN oder Pflegeexperte:in (BScN/ MScN) Tätigkeiten übernehmen, die derzeit noch in der Hand des ärztlichen Personals liegen. Ein Beispiel sind aktuelle Projekte der Hirslanden Gruppe, Spitex Zürich und der ZHAW zur häuslichen Nachsorge und Versorgung zur Vermeidung von (Re-) Hospitalisierungen (#ehealthcarecircle Juni 2022).
Entbürokratisierung und Digitalisierung
Der steigende bürokratische Aufwand erlaubt immer weniger Zeit für den eigentlichen Mensch-zu-Mensch Pflegeprozess. Hierbei kann und muss die Digitalisierung Entlastung bringen. Eine Steigerung der Berufsattraktivität ist dadurch realisierbar. Eine Professionalisierung in der Pflege-IT und im Pflege-Management auf Hochschulniveau sind essentielle Voraussetzungen.
Die Bürokratische Belastung muss abgebaut werden. Sämtliche bestehenden und geplanten Dokumentations- und Nachweisverpflichtungen müssen deshalb kritisch hinterfragt und auf das notwendige Mindestmass reduziert werden (https://www.dkgev.de/dkg/positionen, 2022).
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