„New Healthcare Management“ die Digital Health-Revolution

Ein Ansatz für die erfolgreiche Transformation des Gesundheitswesens

Das Ziel ist klar – der Weg und die Geschwindigkeit nicht. Die (digitale) Transformation des Gesundheitswesens im DACH-Raum kommt nur langsam voran. Am Beispiel der Schweiz wird in diesem Artikel gezeigt, warum das so ist, welche gute Beispiele es trotzdem gibt und wie jede Führungskraft mittels eines neuen Management-Ansatzes seinen Beitrag leisten kann.

Kommt mittels Digital Health nun endlich die Revolution des Gesundheitswesens? Das weiss keiner so genau. Doch was wir sicherlich wissen ist, dass in den folgenden zehn Jahren zahlreiche grosse demografische und technologischen Herausforderungen auf die Gesundheitspolitik zukommen. Diese Herausforderungen, gepaart mit dem gestiegenen Kostendruck der letzten Jahre, ergeben einen immensen Veränderungsdruck auf die Entscheiderinnen in unserem Gesundheitssystem!

Wir wollen alle eine qualitativ gute Gesundheitsversorgung, die die Bedürfnisse der einzelnen Patienten mehr berücksichtigt, und trotzdem bezahlbar bleibt. Entsprechend positiv ist zu bewerten, dass in den DACH-Ländern zunehmend Bewegung ins (digitale) Spiel kommt. So wird in der Schweizer gesundheitspolitischen Strategie 2020–2030 des Bundesrates die Vision eines digitalen, qualitativ hochwertigen und finanziell tragbaren Gesundheitssystems für das Jahr 2030 aufgezeigt [1]. Solche zentralen Visionen können uns als Leitplanke für die künftige Aufstellung und Transformation unserer Systeme dienen.

Unsere Aufgabe als Praktiker und Ökonominnen ist es nun, die Vision anzunehmen und an konkreten Ansätzen zu arbeiten, um die Zukunftssicherheit unseres Systems zu gewährleisten. Die Transformation des Gesundheitsweisen kann nur gelingen, wenn wir das Thema Digital Health umfänglich verstanden haben und richtig anwenden! Ausserdem stellt sich die Frage, ob der einzelne Akteur überhaupt etwas zu der Transformation des Systems beitragen kann.

In diesem Beitrag wird daher am Fallbeispiel Schweiz dargelegt, wie der Stand der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu bewerten ist. Zudem wird diskutiert, inwieweit einzelne Führungskräfte mittels des Ansatzes «New Healthcare Management» einen Beitrag zur Transformation leisten können.

Der aktuelle Stand von Digital Health – Beispiel Schweiz

Sehr gerne verweise ich auf meinen vorherigen Beitrag, in dem ich ausführlich den Begriff Digital Health erörtert habe. Als zentrale Botschaft: Bei der Digitalisierung handelt es sich um keinen Prozess, der losgelöst von anderen strukturellen Fragen der Versorgungsorganisation vorangetrieben werden kann. Digitalisierung ist nur im Zusammenspiel mit einer Vernetzung mit allen an der Gesundheitsversorgung beteiligten Akteurinnen sinnvoll.

Zur Bewertung der Digitalisierung eines Gesundheitssystems ist ein Ländervergleich immer hilfreich. Dieser internationale Vergleich zeigt schnell ein düsteres Bild über den Stand von Digital Health in der Schweiz. So verweist die Bertelsmann Stiftung im internationalen Ländervergleich auf eine Vielzahl von Ländern, welche die Schweiz im Bereich Digitalisierung bereits überholt haben [2]. Die Schweiz belegte nur den 14. von 17 Rängen. Der kleine Trost der einfachen Gemüter war, dass wenigstens Deutschland noch weitere 2 Plätze weiter hinten war.

Digital-Health-Index mit Sub-Indizes - Policy-Aktivität, Digital-health-Readiness, Tatsöchliche Datennutzung
Grafik 1: Digital-Health-Index mit Sub-Indizes. Quelle: Bertelsmann Stiftung (2018)

Man muss die Dynamik solcher Ländervergleiche beachten. Keiner kann sich auf seiner Platzierung ausruhen. So hat Deutschland in den letzten Jahren einen starken Digitalisierungsdrive entwickelt. Eine Vielzahl an gesetzlichen Rahmenbedingungen wurde geschaffen, man spricht hier von 34 verabschiedeten Gesetzen in 32 Monaten! So würde es mich nicht wundern, wenn in der Zwischenzeit Deutschland auf dieser Skala die Schweiz überholt hätte.

Man fragt sich nun, welche Gründe für die Platzierung am unteren Rande des Rankings für das schweizerische Gesundheitssystem angeführt werden. Aus meiner Perspektive ist jedoch nicht nur ein einzelner Grund zu suchen – es liegen vielmehr eine Vielzahl an Beweggründen vor.

  • Zu nennen sind die wenig fortgeschrittene Implementierung von nationalen digitalen Gesundheitsdiensten wie dem elektronischen Patientendossier (EPD – das Äquivalent zu ePA in Deutschland), der Telemedizin oder dem elektronischen Impfdossier. Dabei sollte eigentlich auf Ebene unseres Gesamtsystems der Wohlstand sowie die geringe Landesgrösse eine gute Grundlage für die rasche Digitalisierung darstellen. Länder wie Estland und Dänemark, die im Ranking vordere Plätze einnehmen, sind entsprechende Beispiele.
  • Es zeigt sich jedoch, dass die Fragmentierung durch das föderale System gegen eine schnelle digitale Transformation spricht. Indem die 26 Kantone oft unterschiedliche Vorgaben anordnen, fällt es den Leistungserbringern, Versicherern und anderen privaten Anbieterinnen schwer, diese Vorgaben richtig zu interpretieren. Trotz der staatlichen Vorgaben bestehen Unsicherheiten und gegenläufige Anreize. So kommt es bei der Einführung des EPD zu Verzögerungen – die private digitale Impfpass-Plattform meineimpfungen.ch musste gar wegen gravierender Sicherheitsproblemen ausser Betrieb genommen werden.

Nun, bedeutet dies, dass wenig Hoffnung für die erfolgreiche digitale Transformation unseres Gesundheitssystems besteht? Bei genauerer Analyse finden sich trotz dieser wenig fortschreitenden Implementierung auch im Schweizer System viele innovative Digitalisierungsinitiativen, die Hoffnung für die Transformation machen.

Digital Heath in der Schweiz – Good Practices

Im aktuellen Digital Health Report 2021/22 [3] wurden Digital Health Entwicklungen festgehalten. Das Coronavirus und die Massnahmen gegen seine Ausbreitung wurden in vielen Branchen zu einem Treiber der Digitalisierung. So hat die Covid-19-Pandemie das Schweizer Gesundheitssystem zu neuen Ansätzen gezwungen. Der Ärzteverband FMH stellt seinen Mitgliedern nun ein kostenloses Tool für die Durchführung von Konsultationen per Video zur Verfügung [4].  Die Vielzahl digitaler Übergangslösungen während der Pandemie hat die Behörden vor die Herausforderung gestellt, digitale Gesundheitsanwendungen sorgfältig zu evaluieren und gleichzeitig zeitnah in die Überarbeitung des Pandemieplans einzubeziehen.

«Durch Digital Health können Bedingungen geschaffen werden, die schnellere und zielgerichtetere Entscheidungen ermöglichen. Allerdings gibt es in der realen Umsetzung immer wieder Rückschläge.»

Etablierte Telemedizinanbieter wie Medi24 und Medgate vermeldeten zu Beginn der Pandemie stolze Wachstumszahlen [5].  Die Digital Health Tochter einer Krankenversicherung, Santé24, stellt ihren Kundinnen und Kunden das Telemedizingerät TytoHome zur Verfügung, mit dem eine Vielzahl an Untersuchungen von zu Hause durchgeführt werden wie beispielsweise Analysen des Rachenraumes. Die erhobenen Daten können im Anschluss per Videochat direkt mit einer medizinischen Fachperson von santé24 besprochen werden [6]. Gleichzeitig schliessen sich trotz der beschriebenen Fragmentierung immer mehr Akteure zu Allianzen zusammen, um eine digitale Transformation bottom-up zu initiieren [7]. Der Swiss Digital Health Roundtable,  die Allianz Digitale Transformation im Gesundheitswesen» oder CH++ seien hier stellvertretend für die vielen Initiativen in der Schweiz genannt.

Mein Fazit: Es scheint, dass die Digitalisierung träge, aber unablässig voranschreitet – unabhängig von der systematischen Fragmentierung und ohne auf den grossen Wurf von oben zu warten. Akteure bringen die Digitalisierung voran und greifen den Digitalisierungsdrive der Pandemie proaktiv auf.

Die gemeinsame Mitte der erfolgreichen Ansätze – ein Kulturwandel

Sicherlich fragt man sich, was diese aufgezeigten positiven Ansätze vereint. Die beobachteten Fortschritte sind wahrlich kein Resultat technologischer Durchbrüche. Die digitale Transformation unseres Gesundheitswesens ist kein alleiniges Technologieprojekt, sondern ein Projekt des Wollens, ja ein Kulturwandel. Positive Ansätze sind dort passiert, wo Menschen den Fortschritt bewusst gesucht haben. Zahlreiche Organisationen haben das erkannt und treiben ihre Digitalisierung voran. Sie passen ihre Strategie an, gründen Innovationsabteilungen in ihren Organisationsstrukturen und führen systematisch Pilotprojekte durch.

«Die digitale Transformation unseres Gesundheitswesens ist kein alleiniges Technologieprojekt – es ist ein Projekt des Wollens, ein Kulturwandel»

Die Aufgabe von Entscheidungsträgern in Politik und Gesellschaft ist es nun, dieses Innovationspotenzial zu fördern, aus vergangenen Fehlern zu lernen und die Erfolge landesweit zu verbreiten. Meine Aufgabe als Gesundheitsökonom muss es sein, Praktikerinnen bei der digitalen Transformation zu unterstützen. Zudem bin ich fest überzeugt, dass der Ansatz Digital Health nicht alleinig stehen kann – es bedarf eines umfassenden Wandels unseres Gesundheitssystems zur Bewältigung der aufgezeigten, kommenden Herausforderungen. Praktiker müssen sich nun entscheiden, nach welchem Schnittmuster sie ihre Organisationen gestalten werden und wie sie auf eine Moderne Art und weisen führen wollen.

Ihr Beitrag als Führungskraft: New Healthcare Management

Was kann jeder Einzelne als kleiner Teil des riesengrossen Gesundheitssystems schon beitragen? Meine Antwort ist: Denken Sie neu über Ihre Führung und ihre Organisation nach! Dazu helfen die Ideen hinter dem New Healthcare Management Ansatz [7].  Darin enthalten sind sieben Management-Konzepte, die meiner Meinung nach einen grossen Beitrag zur Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems leisten können. Diese Ideen sind: Positive Führung, Value-Based Healthcare, Design Thinking, Lean & Kaizen, Selbstorganisation, Agilität und selbstverständlich Digital Health. Auch wenn die sieben Ideen in vielen Organisationen einzeln angewendet werden, hängen sie stark voneinander ab und ergänzen sich in der Regel sehr gut.

Die 7 Konzepte von New Healthcare Management
Grafik 2: Die 7 Konzepte von New Healthcare Management. Quelle: Angerer (2021)

Auch wenn es durch die Transformation ihres Teams oder Ihrer Organisation noch nicht plötzlich zu einer Revolution des Gesamtsystems kommt: Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, wie einzelne Akteure zu Leuchttürmen wurden und so einen Einfluss auf das Gesamtsystem hatten. Sie können sich also weiter über «die da oben an der Macht» beklagen. Oder alternativ den eigenen Wirkungskreis nutzen und mittels New Healthcare Management Ihren Beitrag zu einem besseren Gesundheitssystem leisten.

Wenn genug Leuchttürme vorhanden sind und die Bürgerinnen von den Vorteilen von Digital Health überzeugt sind, wird auch die Politik nachziehen und die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Die internationale Best Practices zeigen auf, dass berechtigte Hoffnung auf eine Transformation durchaus besteht. Noch können wir freiwillig handeln, bevor der äussere Druck so hoch wird, dass der Wandel erzwungen wird. Warum also nicht heute schon damit anfangen?

«Wege entstehen dadurch, dass man sie geht – Franz Kafka»

Literaturhinweise

[1] Bundesamt für Gesundheit (2020). Die gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates 2020–2030. Bern
[2] Kostera, T., & Thranberend, T. (2018). #SmartHealthSystems – Digitalisierung braucht effektive Strategie, politische Führung und eine koordinierende nationale Institution (Nr. 5; Daten, Analysen, Perspektiven). Bertelsmann Stiftung
[3] Angerer, A., Hollenstein, E., & Russ, C. (2021). Der Digital Health Report 21/22: die Zukunft des Schweizer Gesundheitswesens. ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. https://doi.org/10.21256/ZHAW-2408
[4] Enz, K. (2020, April 24). Digitalisierung im Gesundheitswesen: Coronavirus wird zum Treiber. St.Galler Tagblatt AG. Abgerufen von https://www.tagblatt.ch/wirtschaft/corona-beschleunigt-die-digitalisierung-im-gesundheitswesen-ld.1215109
[5] Medinside (2020, Juni 26). Telemedizin legt in Coronakrise deutlich zu. Abgerufen von. https://www.medinside.ch/de/post/telemedizin-legt-in-coronakrise-deutlich-zu
[6] Amelung, V., Ex, P., Hildebrandt, H., & Knieps, F. (2020). Nachmachen erlaubt: Innovative Ansätze aus dem Schweizer Gesundheitssystem. Gesundheits- und Sozialpolitik (G&S), 74(6), 42 – 48. https://doi.org/10.5771/1611-5821-2020-6-42
[7] IG eHealth. (2021, März 31). Gesundheitsverbände gründen Allianz «Digitale Transformation im Gesundheitswesen». Abgerufen von: https://www.ig-ehealth.ch/2021/03/31/gesundheitsverb%C3%A4nde-gr%C3%BCnden-allianz-digitale-transformation-im-gesundheitswesen/
[8] Angerer, A. (Hrsg.) (2021). New Healthcare Management (1st Aufl.). Berlin: Medizinisch Wissenschaftlicher Verlag

Leiter der Fachstelle «Management im Gesundheitswesen» an der ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Fachliche Expertise im Bereich Digital Health und Lean. Beruflicher Background als Supply-Chain-Manager bei Nestlé AG und Berater bei McKinsey & Company. Mitglied der Kommission Thurgau Gesundheit und Vorstandsmitglied des ZHAW Digital Health Labs. Ersteller zahlreicher internationaler Publikationen, Bücher, Vorträge sowie des Podcasts «Marktplatz Gesundheitswesen» (www.gesundheitswesen.org) zum Thema Führen von Gesundheitsorganisationen im digitalen Zeitalter.

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