Digital Health in Zeiten von COVID-19

Das 1x1 der digitalen Transformation des Gesundheitswesens

Auch das Gesundheitswesen muss sich der digitalen Transformation stellen. Doch was genau versteht man unter Digital Health? Wie weit sind unsere Gesundheitsorganisationen? Und warum ist es gerade in dieser schweren Zeit wichtig, die Digitalisierung voranzutreiben? In diesem Überblicksartikel werden die Grundlagen zum Verständnis der vielversprechenden Disziplin Digital Health gelegt.

Der 20. März 2020 wird für viele Menschen hier in der Schweiz fest im Gedächtnis verbleiben. Das war der Tag, an dem breit bekannt wurde, dass die zentrale Gesundheitsbehörde nicht mit dem Zählen der Coronavirus-Infizierten hinterherkam. Der Grund? Es waren zu viele Faxe auf einmal angekommen! In einer Krise, wo es auf präzise, schnelle Informationen ankommt, werden von Ärzten noch handgeschriebene Meldescheine gefaxt und dann später von Mitarbeitenden der Bundesbehörde manuell abgetippt. Wenn Leser aus anderen Ländern sich gerade denken «Achja, in der Schweiz, aber bei uns ist das ja bestimmt anders» ein Wort der Warnung:  Das Faxgerät als Relikt prädigitaler Zeiten ist leider in vielen Ländern eher die Regel als die Ausnahme. So gilt das englische Gesundheitssystem NHS als der weltweit grösste Einkäufer von Faxpapier. Die Corona-Krise bietet die Chance, uns über die Digitalisierung der Schlüsselbranche Gesundheitswesen Gedanken zu machen. Die digitale Transformation läuft unter dem Begriff Digital Health.

Was ist Digital Health und warum ist es wichtig?

Definitionen von Digital Health gibt es viele. In meinem Report zu dem Thema «Digital Health – Revolution oder Evolution» erstellte ich eine möglichst umfassende, denoch einfache Definition:

«Digital Health ist der Einsatz moderner ICT im Gesundheitswesen zur Erhöhung der Qualität, der Effizienz und der vermehrten Ausrichtung an Patientenbedürfnissen.»

Man bemerke, dass obwohl ich aus der Betriebswirtschaft komme, als aller erstes Ziel die Qualität steht, noch vor der Effizienz. Das ist nicht nur aus ethischen Gründen bewusst gewählt worden, es hat auch marktwirtschaftliche Gründe. Denn eine Digitalisierung ohne qualitativen Mehrwert für den Patienten ist letztendlich sinnlos und wird nicht vom Markt akzeptiert. Oder würden Sie freiwillig zu einem Arzt gehen der Ihnen sagt: «Wir können Sie dank des Operationsroboters für die Hälfte der Kosten operieren. Leider werden Sie aber starke Schmerzen erleiden müssen und die Komplikationsrate wird sich verdoppeln»? Wohl kaum. Deswegen wollen wir mit Digital Health auf keinem Fall die Qualität der Effizienz opfern. Im Gegenteil, wir wollen beides gleichzeitig erhöhen!

Die Prozesseffizienz ist deswegen so wichtig, weil sie für eine Win-Win-Win Situation sorgt: Das System, die Patienten und die Mitarbeitenden gewinnen. Dass unsere Gesundheitssysteme teuer sind und immer teurer werden, hat sich ja schon breit rumgesprochen. Neue digitale Abläufe können dafür sorgen, dass der Kostenanstieg gebremst wird, und damit auch unserer aller Versicherungsbeiträge. Prozesseffizienz für die Patienten sorgt nicht nur für erhöhte Bequemlichkeit, durch zum Beispiel kürzere Wartezeiten beim Arzt. Prozesseffizienz wirkt sich auch auf die inhaltliche Qualität der Behandlung aus. Bei einer zentralen, elektronischen Patientenakte haben alle meine behandelnde Ärzte Informationen zu den von mir eingenommen Medikamente. Somit erhöht sich die Chance, dass erkannt wird, dass zwei meiner eingenommenen Medikamente eine unverträgliche Wechselwirkung aufzeigen. Und schlussendlich gibt es auch einen Win für die Mitarbeitenden, die im Gesundheitswesen ein kostbares und knappes Gut sind. Nichts ärgert Ärzte und Pflegende mehr, als schlechte, bürokratische Prozesse. In einer Praxisstudie konnte ich messen, dass Ärzte und Pflegende nur ca. 20 % ihrer Zeit am Patienten verbringen – das sind typische Werte für viele Kliniken. Ein gutes Krankenhausinformationssystem (KIS) kann dafür sorgen, dass die Mitarbeitenden die Zeit für administrative Aufgaben reduzieren und sich dafür mehr um ihre Patienten kümmern können.

Schlussendlich werden in der Definition noch die Patientenbedürfnisse thematisiert. Die Zeiten, in denen die Ärzte elitär ihre Diagnose stellten und die Patienten glücklich sein konnten, überhaupt behandelt zu werden, sind vorbei. Mit einer elektronischen Patientenakte können beispielsweise Patientenbedürfnisse wie der Wunsch nach Informationen und Transparenz besser erfüllt werden. Und das grosse Themengebiet der «Personalisierten Medizin», wo ich als Patient eine auf meine persönliche Situation perfekt abgestimmte Therapie erhalte, ist ohne die Fortschritte der Digitalisierung undenkbar.

Welche Facetten hat Digital Health?

Wenn Digital Health so breit aufgefasst wird, dann besteht die Gefahr, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Deswegen haben meine Kollegen und ich ein Ordnungsmodell kreiert, dass der Breite des Themas gerecht wird und einen Überblick verschafft:

Grafik1 - Digital Health
Grafik1 – Digital Health Quelle: Selbstdarstellung

Wir unterscheiden zwischen technologiegetriebenen und managementgetriebenen Anwendungsfeldern. Wenn die Presse über technologische Durchbrüche, wie das 3D-Drucken von Organen berichtet, dann sprechen wir von Tech Health. Typisch für Tech Health ist, dass zunächst eine Technologie im Vordergrund steht (hier der 3D-Druck) und dann überlegt wird, was man damit im Gesundheitswesen alles verbessern könnte. Bei Data Health ist das ähnlich, allerdings sind nicht die Hardware, sondern die Daten und ihre Verarbeitung im Fokus. Beispielsweise wird schon heute in der Radiologie die Diagnostikqualität mittels künstlicher Intelligenz (Deep Learning) erhöht.

Bei den zwei Dimensionen Trend Health und eHealth ist der Treiber hingegen eher die Betriebswirtschaft. Von den beiden Dimensionen ist eHealth die Ältere. Schon in den 80er Jahren hat man beispielsweise in Australien mittels Telemedizin das Problem der grossen Distanzen zwischen Arzt und Patient gelöst (damals über das Telefon). Trend Health-Anwendungen wurden erst in den letzten Jahren richtig populär. Sie verlassen das Kerngebiet der Medizin und sind im Bereich Lifestyle und Fitness angesiedelt. Die vielen Schrittzähler und Sportapps sind typische Vertreter dieser Dimension.

Wo stehen wir und wie geht es weiter?

Nach der Einleitung dieses Beitrags sollte jedem die Antwort auf übergeordnete Frage nach dem Reifegrad klar sein: Noch stehen wir ganz am Anfang der Digitalisierung. Die meisten Untersuchungen des momentanen Reifegrades der Branche kommen zu ernüchternden Ergebnissen. Im Gesundheitswesen ist man gewohnt, aus betriebswirtschaftlicher Sicht, 10 Jahre den anderen Branchen hinterherzuhinken. Und auch im technologischen Bereich sieht es leider nicht gut aus. So sagen nur gut ein Viertel der Befragten von Schweizer Krankenhäusern, dass sie eine digitale Strategie haben.

Doch ich bin sehr zuversichtlich, dass sich das bald ändern wird. Der Nutzen einer Digitalisierung ist offensichtlich. Investoren prognostizieren jährliche Wachstumszahlen um die 15 %. Bekanntlich brauchen Veränderungen Druck. Und der kommt nun. Sei es negativer Veränderungsdruck, weil wir einen momentan unhaltbaren Zustand verändern wollen («Wir dürfen uns während einer Pandemie nicht auf unsichere Faxe verlassen!»). Oder sei es positiver Druck, wie ich ihn gerade in Deutschland mit einem sehr aktiven Gesundheitsminister erlebe, der sich das Thema Digitalisierung auf die Fahne geschrieben hat. So oder so, es passiert etwas!

Das sieht man auch hier in der Schweiz. Das Bundesamt für Gesundheit hat am 23.3.2020, also nur drei Tage nach der grossen Empörung, eine verschlüsselte Email für die sichere Datenübermittlung von Coronavirus-Patienten erhalten. Na wunderbar, die Digitalisierung schreitet voran!

Literaturhinweise

Angerer, A., Russ, C., & Ultsch, S. (2019). Digital Health – Revolution oder Evolution? Strategische Optionen im Gesundheitswesen. Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie, ZHAW School of Management and Law. https://digitalcollection.zhaw.ch/handle/11475/18267

Angerer, A., Schmidt, R., Moll, C., Strunk, L. E., & Brügger, U. (2017). Digital Health – Die Zukunft des Schweizer Gesundheitswesens. Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie, ZHAW School of Management and Law. https://digitalcollection.zhaw.ch/handle/11475/1458

Leiter der Fachstelle «Management im Gesundheitswesen» an der ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Fachliche Expertise im Bereich Digital Health und Lean. Beruflicher Background als Supply-Chain-Manager bei Nestlé AG und Berater bei McKinsey & Company. Mitglied der Kommission Thurgau Gesundheit und Vorstandsmitglied des ZHAW Digital Health Labs. Ersteller zahlreicher internationaler Publikationen, Bücher, Vorträge sowie des Podcasts «Marktplatz Gesundheitswesen» (www.gesundheitswesen.org) zum Thema Führen von Gesundheitsorganisationen im digitalen Zeitalter.

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