Mittelständler, lasst eure Mitarbeiter frei!

Warum die Kultur des einsamen Innovators überholt ist: Unternehmen aus Bundesländern wie Baden-Württemberg müssen aus ihrer Tüftlerkultur eine Netzwerkkultur machen, um zukunftsfähig zu bleiben, argumentiert Julia Kovar-Mühlhausen, Leiterin der Kommunikation der Baden-Württemberg Stiftung und Veranstalterin von Mission M 2020.

Unternehmen aus Bundesländern wie Baden-Württemberg müssen aus ihrer Tüftlerkultur eine Netzwerkkultur machen, um zukunftsfähig zu bleiben, argumentiert Julia Kovar-Mühlhausen, Leiterin der Kommunikation der Baden-Württemberg Stiftung und Veranstalterin von Mission M 2020.

Innovation entsteht aus meiner Sicht dort, wo Mitarbeiter*innen die Freiheit haben, über Unternehmensgrenzen hinaus zu denken. Denn Innovation bedeutet auch, keine Angst vor Scheitern zu haben und das Ausprobieren zu fördern. Denn nur so kann Kreativität entstehen.

Diese Erkenntnis hat sich im Laufe meines Berufslebens immer wieder bestätigt. Es ist schon einige Jahre her, da startete ich nach dem BWL-Studium bei einem mittelständischen Unternehmen in der Region Stuttgart ins Berufsleben. Ich war hoch motiviert und ambitioniert und startete ins Trainee-Programm mit dem Willen, aktiv mitzuarbeiten, um Veränderung mitzugestalten und Verbesserungen anzustoßen.

Wie ich lernte, was Demotivation ist

In einem Projekt an der Schnittstelle von Vertrieb und Marketing arbeitete ich daran, dem Außendienst digitale Präsentationsformen an die Hand zu geben. Eines Tages bekam ich die Gelegenheit, der Geschäftsleitung das Konzept zu präsentieren. Motiviert startete ich in meine Vorstellung, nur um nach wenigen Minuten jäh ausgebremst zu werden. Was denn dieses neu abgerundete Unternehmenslogo in der Dachzeile solle? Ich erwiderte, dass dies eine Design-Studie sei, um zu zeigen, wie man das Logo in digitalen Medien verwenden könne. Die Geschäftsführerin ermahnte mich wie ein Schulkind, dass das Logo niemals verändert würde und hörte mir ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zu. Die Folge: Nach dem Trainee-Programm blieb ich noch ein Jahr, dann suchte ich schnellstmöglich das Weite.

Heute arbeite ich bei der Baden-Württemberg Stiftung und habe das große Glück, Themen eigenverantwortlich vorantreiben, viel Neues probieren und mich laufend weiterentwickeln zu können. Ein Beispiel dafür ist der Start unseres eigenen Podcasts, der sich rund um Macherinnen und Macher aus Baden-Württemberg dreht. Oft drehen sich die Gespräche, die ich mit meinen Gästen führe, rund um Innovationen in und aus dem Land. Deshalb führten mich die Gespräche oft zur Frage, was Baden-Württemberg gegenüber anderen Bundesländern stark macht, welche Eigenschaften unser südliches Bundesland von anderen unterscheiden und welche uns besonders gut aus der aktuellen Corona-Krise bringen würden. Immer wieder fällt die gleiche Antwort: Es ist die Tüftelleidenschaft, der Erfindungsreichtum, der Erfindergeist, der Baden-Württemberg ausmacht.

Baden-Württemberg: Das Land der Tüftler und Denker

Der Erfindungsreichtum ist unbestritten eine Eigenschaft, die Baden-Württemberg, das zu Beginn der Industrialisierung aufgrund seiner Rohstoffarmut gegenüber anderen Landesteilen benachteiligt war, stark gemacht hat. Was wurde hier nicht alles erfunden: das Automobil, der Dübel, der Büstenhalter, der Klebstoff und sehr viel mehr. Auch heute noch steht BW an der Spitze aller Bundesländer und sogar der gesamten EU, wenn es um Innovationsfähigkeit geht.

Die Gefahr tradierter Strukturen

Die Gefahr dabei ist, dass ein Großteil dieser Innovationen immer noch in Industrien entsteht, die Zeiten fundamentalen Umbruchs entgegensehen, wie z.B. die Automobilindustrie. Andere Unternehmen dagegen sind immer noch zu sehr in einer Arbeitsweise verhaftet, die früher Erfindungen entstehen ließ, heute aber Innovation verhindert: das Vor-sich-hin-Werkeln in kleinen Teams innerhalb hierarchischer Strukturen, die Durchlässigkeit, Transparenz und Ideenaustausch nicht zulassen. Unter anderem Familienunternehmen, aus denen der Mittelstand hierzulande zu großen Teilen besteht, setzen auf traditionelle Geschäftsmodelle, anstatt sich weiterzuentwickeln, sich zu digitalisieren, zu innovieren.

Raus aus dem stillen Kämmerlein!

Die Arbeit an Mission M zeigt leider immer wieder, wie schwer es ist, Personal aus KMU gewinnen zu können, um als Speaker*innen oder in Workshops andere an ihren Erfolgen teilhaben zu lassen. Die Standardantwort auf unsere Anfragen: „Wir haben keine personellen Ressourcen“, „Wir können leider niemanden freistellen“ oder (noch) schlimmer: „Wir möchten lieber nichts über unser Projekt erzählen, denn wir sind so bescheiden“. Was falsch daran ist? Innovation entsteht eben nicht mehr im stillen Kämmerlein! Die Zeiten stiller Erfinder, die zurückgezogen im Scheine funzliger Glühbirnen Erfindungen entwickeln, sind vorbei. Innovationen entstehen in Netzwerken. Sehr große Innovationen sogar über Kooperationen von Wettbewerbern, die früher unvorstellbar gewesen wären (siehe: Daimler und BMW, die eine Kooperation für eine Plattform für autonomes Fahren eingingen). Innerbetriebliche Bewegungen wie Working out loud stellen die uneigennützige Arbeit an Themen, die innerhalb ganz neuer Netzwerke entstehen und getrieben sind von der Eigenmotivation der Mitarbeiter, in den Mittelpunkt.

Das bedeutet aber, dass vor allem mittelständische Unternehmen umdenken müssen. Innovationen und Netzwerke sind heute maßgeblich vom Megathema unserer Zeit bestimmt: der Digitalisierung. Eine Studie der Unternehmensberatung Deloitte zeigt jedoch, dass die Digitalisierung zwar tendenziell als Megatrend wahrgenommen wird, aber im Detail kaum konkrete Vorstellungen zur Digitalisierung in Unternehmen existieren. Nur 33 Prozent aller befragter Industrieunternehmen schätzen die Bedeutung von Digitalisierung als „sehr hoch“ ein! Als Gründe für mangelnde Digitalisierung werden „geringere Ressourcen als Großunternehmen“ und „weniger Interesse“ genannt. Deloitte führt dies – das „stille Kämmerlein“ lässt grüßen – auf das starke Traditionsbewusstsein vieler Mittelständler zurück.

Studie zeichnet ein kritisches Bild

Das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) mit Sitz in Tübingen hat eine aktuelle Studie zum Thema Forschung, Entwicklung, Innovation und Qualifizierung in den industriellen Schlüsselbranchen Baden-Württembergs veröffentlicht, die für die Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt wurde. Die Schwerpunktbranchen Baden-Württembergs, also Maschinenbau, Automobil- sowie Metall- und Elektroindustrie stehen infolge der Globalisierung, des technologischen und demografischen Wandels sowie der Erfordernisse des Umweltschutzes und der Digitalisierung vor großen Herausforderungen.

Die Aktivitäten der Betriebe, diesen Herausforderungen zu begegnen, spiegeln sich laut Studie allerdings nur teilweise wider. Nur knapp 60 Prozent der Betriebe in den Schlüsselbranchen gaben an, ihre technischen Anlagen seien auf dem neuesten Stand (in 2009 und 2010 waren es noch 77 bzw. 71 Prozent). Die Schlüsselbranchen bewegen sich bei der Entwicklung von Produkt- und Leistungsangeboten mit einem hohen Neuerungsgrad nur „im Mittelfeld“. Die Unternehmen im sonstigen verarbeitenden Gewerbe und vor allem im Handel erreichen hier deutlich höhere Werte. Von den Betrieben, die Forschung und Entwicklung (FuE) betreiben, haben nur 29,7 Prozent im Jahr 2019 innovative Produkte oder Dienstleistungen entwickelt. Außerdem zeigt die Studie, dass die Weiterbildungsquote, also der Anteil der Beschäftigten, die von Weiterbildung profitieren, in Betrieben mit FuE niedriger ist als sie sein könnte. Auch in den Nachwuchs wird zu wenig investiert: Nur 57 Prozent aller Betriebe in den Schlüsselbranchen, die eine Ausbildungsberechtigung haben, bildeten 2019 auch tatsächlich aus!

Faktoren, die Innovation im Mittelstand verhindern

  • Traditionsbewusstsein, das dazu führt, dass man sich auf dem, was man vermeintlich gut kann, zu lange ausruht
  • Ein hoher Anteil an Familienunternehmen, die Wissen innerhalb der Familie bewahren und strategisches Management und somit Innovationen zu lange ausklammern
  • Innovationen im stillen Kämmerlein, ohne strategische Partnerschaften und fundamentales Innovationsmanagement
  • Keine oder zu geringe Investitionen in strategische Digitalisierung
  • Zu wenig Bewusstsein und Investition in Nachwuchssicherung, Wissensmanagement und lebenslanges Lernen

 

Aus diesen Problemstellungen folgen vier Punkte:

  1. Wissen bedeutet heute lebenslanges Lernen und permanente, frühzeitige Nachwuchssicherung und Fachkräftebindung.
  2. Wissenserhalt bedeutet Transfer über verschiedene Generationen von Mitarbeiter*innen hinweg.
  3. Innovation bedeutet nicht länger das Vor-sich-hin-Tüfteln im stillen Kämmerlein, sondern Netzwerkinnovationen und Durchlässigkeit von Strukturen und Hierarchien, um zum Beispiel Innovationen Bottom-up, also direkt aus den Reihen der Mitarbeiter*innen, zu ermöglichen.
  4. Gleichermaßen müssen hingegen Megathemen wie Digitalisierung von der Führungsebene aus über alle Unternehmensbereiche hinweg getrieben werden.

Anja Hendel, Chefin der Digitalagentur diconium, nannte mir im Podcast-Interview drei Schlüsselfaktoren, um Mitarbeiter*innen in der digitalen Transformation mitzunehmen: Freiraum geben, Neugierde wecken und positive Kultur vorleben. Sie bestätigte damit meine Eingangsthese.

Wenn ich mir also etwas wünschen dürfte, wäre es: Liebe Mittelständler, geben Sie Ihren Mitarbeiter*innen die Freiheit, sich intern zu vernetzen, aber auch rauszugehen, Dinge auszuprobieren, Neues zu schaffen, Netzwerke entstehen zu lassen. Und lassen Sie sie im Sinne von Unternehmensbotschaftern über ihre Projekte sprechen, damit andere erfahren, welche Innovationen bei Ihnen entstehen und um Weiterentwicklungen anzustoßen. Nur Mut, es wird schon schiefgehen!

Autorin: Julia Kovar-Mühlhausen, Leiterin Kommunikation, Baden-Württemberg Stiftung gGmbH, Twitter, LinkedIn

Mission M ist ein Veranstaltungskozept, welches sich an mittelständische Unternehmen richtet. Mission M dient als Plattform für Führungskräfte von heute und morgen, die Verantwortung übernehmen und Veränderungen im Unternehmen antreiben möchten. Im Fokus steht die Frage, wie Innovationen in Leadership, Zusammenarbeit, Arbeitsstrukturen, Technologien und strategischer Ausrichtung sie dabei unterstützen können und auf welche Weise diese Innovationen erfolgreich umzusetzen sind. 2020 wird der Kongress als Hybrid-Event durchgeführt. Nächster Termin ist der 3. und 4. November 2020, Veranstalter ist die Baden-Württemberg Stiftung.

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