Wandel der Medien: löst populistisches Marketing den Journalismus ab?

Wie Social-Media und Issue Communities die Medien-Öffentlichkeit durch Influencermarketing verändern

Das Internet und Social Media vereinen den Traum von der Weisheit der Vielen, die sich dezentral manifestiert. Aber so schön dieser Traum auch ist, so intransparent und ungleich ist das Wissen in der neuen Öffentlichkeit verteilt. Contentstrategien von Einflussgruppen zum Erzeugen von Visibility reichen von sinnstiftenden Narrativen bis zu populistischem Marketing.

Hobbyangebote stechen professionelle Dienstleistungen aus, user-generated Content ersetzt wissenschaftliche Abhandlungen als Lernmaterial und Influencer nehmen Parteien die politische Meinungsbildung der Bevölkerung ab – ist das eigentlich noch Demokratie oder schon Chaos? Das Internet und Social Media vereinen den Traum von der Weisheit der Vielen, die sich dezentral manifestiert. Aber so schön dieser Traum auch ist, so intransparent und ungleich ist das Wissen in der neuen Öffentlichkeit verteilt.

Agile Medienwelt: von passivem Konsum zu aktiver Partizipation

Das Publikum ist erwachsen geworden. Es hat sich vom rezipierenden Objekt zum interaktiven Medium gewandelt, das verschiedene Rollen einnehmen kann. Laien- und semiprofessioneller Journalismus fördert die nutzerzentrierte Erweiterung der Themenspektrums um alternative Inhalte. Dies wiederum schafft Rückkoppleungseffekte für den klassischen Journalismus. Während die Massenmedien gesamtgesellschaftliche Orientierung durch kontextübergreifende Bezugspunkte schaffen, bedient die Blogosphäre Partikularinteressen und Subkulturen. Das Themenspektrum reicht dabei von klassischen Themen wie Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur bis hin zu nicht-traditionellen und ehemals grenzwertigen Bereichen wie Globalisierungskritik, Esoterik und Homöopathie.

Die Öffentlichkeit ist durch Internet und Social Media-Netzwerke viel heterogener geworden. Waren es vormals monologisch vermittelte Ansichten der bürgerlichen Mittelklasse, treten diese nun in Konkurrenz zu Ansichten aus verschiedenen sozialen und kulturellen Lagern. Diese halten sich nicht an Länder- oder Sprachgrenzen und agieren plattformübergreifend. Internet-News-Portale wie Buzzfeed oder Huffington Post sind als Hybrid aus News-Feed, Blog und Magazin aufgebaut, die Boulevard-Entertainment, subjektive Meinungskommentare und objektiv-faktenbasierte Recherche vermischen, um eine größere Zielgruppe anzusprechen. Was im 20. Jahrhundert die Massenmedien in klar unterteilten Sparten und Ressorts für ausgewählte Zielgruppen aufbereitet haben, verschmilzt nun zu einem Panoptikum aus emotionsgeladenen, potentiell identitätsstiftenden Einzelbotschaften.

Die Lobby-Agendas der digitalen Clans 

Das Verschwimmen der Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit stellt Autoritäten aus Wirtschaft und Gesellschaft und diplomatische Vertreter vor neue Herausforderungen, denn jede unsorgfältig formulierte Äußerung kann in einen unbeabsichtigten Zusammenhang gestellt werden. Lapidare Zwischenfälle können leicht zu Skandalen führen oder gar Bedeutung von internationaler Tragweite erlangen. Sie beeinflussen dabei direkt und unmittelbar die politische Landschaft wie die von bestimmten Interessengruppen bewusst manipulierten Fake News, Desinformationskampagnen oder Hate Speech.

Hier offenbart sich ein Grundproblem des Internetraums: er begünstigt die Privatisierung von Öffentlichkeiten. Das bedeutet, es bilden sich private Kreise im Öffentlichen, die Suchbewegungen und Inhalte nach bestimmten Agendas lenken und geschlossene Einflusskreise schaffen. Dies sind oft exklusive digitale Clans, in denen ganz eigene Strukturen herrschen. Die Vision von der konsensbasierten Entscheidungsfindung wandelt sich so immer öfter zu lobbytypischen Formierung von Gruppeninteressen, deren Macht mit ihrem gesellschaftlichen Einfluss steigt: finanzielle Liquidität und hochrangige Netzwerke in Politik und Wirtschaft verschaffen ihnen in der Contentflut die notwendige Visibilty und Reichweite für ihre Inhalte, während die breite Masse aus organisch produziertem Content oftmals ungesehen untergeht. Ist diese Entwicklung umkehrbar?

Diversität in der offenen Basar-Community

Die Sharing-Kultur kann schnell und weitreichend eine kaum zu kontrollierende Viralität erzeugen. Unterstützend wirkt dabei die Affektivität der technologischen Kommunikation, die im Gegensatz zur stark konventionell geprägten schriftlichen oder mündlichen Kommunikation mit Bildern, Videos und Smileys Emotionen und somit Wertungen viel schneller transportiert. Gleichzeitig steigt mit den technologischen Möglichkeiten der Teilhabe der Wunsch vormals unterrepresäntierter Gruppen, den politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess aktiv zu beeinflussen. Menschen mit diversen Hintergründen agieren im öffentlichen Raum und verschaffen ihren Anliegen Gehör, so dass Probleme wie die Ungleichbehandlung aufgrund unterschiedlicher Merkmale immer stärker in den Fokus treten. 

Es findet eine Familiarisierung der gesellschaftlichen Dialogs statt, der in der offenen Basar-Community ausgetragen wird. Analog zum Quellcode der Open Software sind die kulturellen Narrative im Internet in ihrer Entwicklung transparent einsehbar und werden nicht wie früher von selektiven Medien-Autoritäten interpretiert und der Öffentlichkeit nach Bedarf präsentiert. Die Deutungshoheit hat sich vom Kathedralen-Prinzip hin zum Basar verschoben – statt ehemals Top-Down-Hierarchie existieren nebeneinander verschiedene Cluster, die sich tangieren können oder auch nicht. Es gibt keine klare Leitkultur mehr, denn die Basar-Community ist ständig in Entwicklung begriffen. Der Basar besteht aus vielen kleinen autarken Zellen, die durch Selbstorganisation organisch zusammenwachsen. Sie weben ihre persönlichen Narrative zu einem größeren Narrativ zusammen, das aber niemals einen Endpunkt oder eine allgemeingültige Wertigkeit erreicht. 

Informationsmediäre: Autoritäten des 21. Jahrhunderts

Das Internet entwickelt sich längst weltweit zum Hauptmedium und wird auch im deutschsprachigen Raum in naher Zukunft das Fernsehen auf dem ersten Platz ablösen. Aber wie wird es eigentlich zur Informationssuche genutzt? Die Zahl vor allem bei den jüngeren Zielgruppen, die sich aktuelle Informationen nicht mehr über die Redaktion ihres Vertrauens abrufen, sondern über Social Media, steigt. Darauf reagiert auch die Wirtschaft: die Bedeutung von eigenem Social Media Marketing wird laut der Studie „Social Media Marketing in Unternehmen 2018“ des Deutschen Instituts für Marketing als hoch und steigend eingeschätzt; besonders mittelgroße Unternehmen mit 50 – 250 Mitarbeitern und weltweit tätige Unternehmen sehen in dieser Maßnahme besonders viel Potential zur Neukundengewinnung und -bindung. 

Aber auch im Internet geht es nicht ohne Autoritäten, die die überwältigende Datenmasse mit technologischen Methoden wie Metrikenerstellung und Mustererkennung bändigen. Journalisten werden wie bei Microsoft durch Künstliche Intelligenz ersetzt, indem Softbots ihre Aufgaben der Textzusammenstellung übernehmen. Während die traditionellen Massenmedien an Bedeutungsrelevanz und auch an Erlösen verlieren, übernehmen neue Akteure ihre Ordnung stiftende Aufgabe: Konsum- und Communityräume werden von sogenannten Informationsintermediären vermittelt, die die Drittangebote algorithmisch ordnen und selektieren und für den einzelnen Nutzer personalisieren.

Laut der Studie „Die Macht der Informationsintermediäre“ der Friedrich-Ebert-Stiftung nehmen Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Micro-Blog Plattformen, News-Aggregatoren und App-Portale in der digitalisierten Welt eine Schlüsselstellung ein, weil sie strukturveränderndes Potenzial haben. Neu gegenüber klassischen intermediären Strukturen wie nationalstaatlichen Institutionen und Aufsichtsgremien ist, dass sie hauptsächlich aus großen privatwirtschaftlichen Unternehmen bestehen, die global agieren. Für diese bedarf es sinnvoller Ansätze zur Regulierung und zum Monitoring, ohne in das Geschäftsmodell der Vorauswahl und algorithmischen Selektierung von personalisierten Informationsbedarfen zu sehr einzugreifen. Es sollte aber im Interesse der Öffentlichkeit sein, Missbrauch und Manipulationen der freien Meinungsbildung gesetzlich einzuschränken.

Der Einfluss von Issue Communities in der Überwachungskultur

Die demokratische Massenöffentlichkeit hat sich zu einer fragmentierten Noosphäre aus Echokammern gewandelt, die durch fließende Übergänge geprägt ist. Die großen Räume gesellschaftlicher Diskussion werden in algorithmisch vermittelte semiprivate Kommunikationssphären und spezialisierte Issue Communities zersplittert. Problematisch für eine gesamtgesellschaftliche Meinungsbildung ist vor allem das vielzitierte Phänomen der selbstverstärkenden Echokammern. Intermediäre wählen Inhalte nicht nach redaktionellen Richtlinien, gesellschaftlichem Konsens oder Meinungsvielfalt aus, sondern nach persönlichen Einzelinteressen des jeweiligen Nutzers – dabei zielen diese Bemühungen nicht auf politische Erziehung der Individuen ab, sondern auf die maximale und dauerhafte Konsumierung profiterzeugender Angebote.

Der Fragmentarisierung und Kommerzialisierung der Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter steht die enge Vernetzung der Individuen als Schnittstellen gegenüber. Das Internet ist Verwirklichung und Abbild eines „surveillance social imaginary “, wie David Lyon es nennt und sich dabei auf das soziologische Konzept des social imaginary von Charles Taylor bezieht. Er versteht „surveillance social imaginaries“ als allgemein anerkannte Übereinkünfte über Aspekte der Sichtbarkeit im täglichen Leben einschließlich Erwartungen und normativer Regeln, die eine Grundlage für legitime Überwachungspraktiken aufstellen. Es realisiert auf höchstem technisch-bürokratischen Niveau das Verständnis der modernen Gesellschaft, die Sicherheit und Freiheit durch gesellschaftlich ausgehandelte Überwachungspraktiken organisiert. 

Die Verschränkung mit der Technologie hat einen potentiell kreativ-ermächtigenden Charakter, denn die Wirkmacht des Einzelnen hat sich in der Spätmoderne durch die Demokratisierung der Öffentlichkeit enorm erhöht. War es in der klassischen Moderne das bürgerliche Gemeinwohl, auf das die Öffentlichkeit ausgerichtet war, zielt sie nun auf die punktuelle Kollektivität von Individualinteressen: „The ‚public’ is colonized by the ‚private“ beschreibt Zygmunt Bauman diese Entwicklung. Statt der Vereinigung unter einem übergeordneten Ziel dient das Prinzip des Sharing und Networking dazu, die individuelle Sichtbarkeit – die Visibility – zu erhöhen, damit das Individuum sich selbst als Marke mit Alleinstellungsmerkmal etablieren und damit die eigenen Marktchancen erhöhen kann.

Diskursermächtigung durch populistisches Marketing

Um die geringe Aufmerksamkeitsspanne bei gleichzeitig dichter Contentflut des Publikums zu bedienen, ist die vielversprechendste Strategie populistisches Marketing. Dessen Kennzeichen ist die Verknappung von Sprache. Damit entfernt sich die Internet-Kommunikation von der klassischen Schrifttradition der grammatica und ähnelt eher der oralen Tradition aphoristischer Gelehrsamkeit im Mittelalter. Noch Francis Bacon, der als einer der wichtigsten Begründer der modernen empirischen Wissenschaft gilt, zog die Verwendung von Aphorismen der logisch-methodischen Darstellung vor, weil die prägnant-geistreich formulierten Gedanken sich zur Darstellung unvollständigen Wissens besser eigneten und darüber hinaus zum Forschen und Handeln anregten.

Das populistische Marketing im Internet gleicht einer Politisierung von Sprache: es emotionalisiert den Diskurs und verkürzt ihn. Durch semantische Methoden wie der Diskursermächtigung bekannter Begriffe oder dem Prägen von neuen Schlagwörtern und Parolen versuchen Unternehmen, Lobbyisten und Agitatoren den Diskurs in eine bevorzugte Richtung zu lenken. Die technische Beschränkung und rhetorische Logik der Plattformen bringt es mit sich, dass ausführliche argumentative Berichte knackigen Werbebotschaften weichen müssen, um maximale Aufmerksamkeit in der Schnelllebigkeit des viralen Live-Feed zu generieren. Gleichzeitig bietet es Unternehmen aber auch die Möglichkeit, aktiv die Öffentlichkeit selbst mitzugestalten, indem sie durch eigenes Agenda-Setting Aufmerksamkeit für innovative Geschäftsmodelle fördern.

Parteien und staatliche Akteure beteiligen sich ebenfalls aktiv an der Ausarbeitung von geeigneten Contentstrategien, mit denen sie das kritische Thema Desinformation, Fake News und Hate Speech in den Griff zu bekommen versuchen. Marketing- und Aufklärungskampagnen arbeiten dabei genau wie die organische Community mit sinnstiftenden Narrativen, um einen Gruppenkonsens zu erzeugen. Die Grundkonstruktion dieser Narrative ist gleich: klares und plakatives äußeres Feindbild zeichnen, repetitiv Gruppenzusammengehörigkeit durch die Appellation an gemeinsame Werte beschwören und daraus Call-to-Action, also Handlungsempfehlungen ableiten. Der Diskurs wird mit dieser Methode oftmals auf einen hoch umstrittenen Symbolbereich verengt, um dort mit meinungsstarken Auftritten zu Trendthemen maximale Wirkung zu erzielen. Problematisch ist allerdings, dass die sachlich-detaillierte Erörterung komplexer Facetten zunehmend auf der Strecke bleibt. Die intellektuellen Eliten tappen letztlich in die Falle der Populisten, indem sie den Diskurs verflachen und polarisieren.

Die literarische Publizität einer neuen Bürgerlichkeit

In der Überwachungskultur ändern sich die Erwartungen an das Individuum. Waren die literarische Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts und die Medienöffentlichkeit des 20. Jahrhunderts weitgehend autoritativ-abstrakte Erziehungskulturen aus der Distanz, ist das eigentlich prägende der Social Media-Öffentlichkeit der unmittelbare Lehrwert des personalisierten Feedback in der direkten Interaktion. Eine Reaktion auf individuelle Aktivitäten in Form von Likes, Zustimmung oder Beschwerde durch die pluralistische Schwarmintelligenz sind ausdrücklich erwünscht, da sie sowohl der Ausweitung der individuellen Einflusssphäre als auch der Weiterentwicklung der Persona dienen. Erst die soziale Reaktion im Internet-Universum formiert die massentaugliche Akzeptanz einer Ansicht oder Meinung. Die Diskussionskultur der intellektuellen Eliten, die sich innerhalb einer vorgegebenen Tradition der Political Correctness bewegen, entwickelt sich zu einem provozierenden Schlagabtausch, bei dem nicht mehr die Sache, sondern der Meinungsmacher oder Influencer als charismatische Führungsfigur mit seinen persönlichen Merkmalen im Vordergrund steht. Der Stil schließt an den New Journalism an, der sich in Themenfelder der Popkultur wagt und neue Grenzen jenseits kanonisierter Schreibarten auslotet. 

Die Grenzen zwischen privat und öffentlich (und zwischen Arbeit und Freizeit) verschieben sich neu: angepasste Vereinbarungen gesellschaftlicher Normen müssen erst geschaffen werden, wo die Grenze der Transparenz zu verorten sei. Aber auch wenn die pluralistische Sichtbarmachung der Privatsphäre im 21. Jahrhundert systemischer Konsens ist, bedeutet die neue öffentliche Einsamkeit geistiger Art per se nicht, dass das Intime entblößt wird. In der „literarischen Publizität“ gilt schon immer – wie Thomas Mann es formuliert -, dass das „Einsamkeitspathos gesellschaftsfähig“ und „sogar bürgerlich-verdienstlich“ ist, denn „die Würde des Künstlers als Privatperson bleibt dadurch völlig unangefochten“. 

Fazit

Der Diskurs in der Social-Media-Öffentlichkeit begünstigt die aktive Teilnahme von ehemals ungehörten Gruppen, die auf Ungleichbehandlung aufmerksam machen können. Allerdings verschiebt sich das Machtgleichgewicht immer weiter zugunsten finanzstarker Lobbygruppen, die mit PR-Kampagnen den Diskurs in ihrem Sinne emotionalisieren und verzerren. So verkommt die demokratische Beteiligung zur Illusion: Der als Dialog getarnte Monolog operiert außerhalb der intellektuellen Tradition der differenzierten Abwägung von Fakten und Argumenten und konzentriert sich statt dessen auf Effekthascherei. Notwendig ist eine Diskussion über Maßnahmen zur Regulierung von Einflussgruppen und die Förderung digitaler Mündigkeit, um Manipulationsversuche der öffentlichen Meinung zu entlarven – diese Rolle übernehmen heute immer häufiger charismatische Meinungsmacher statt journalistische Redaktionen.

Simone Belko is a media scientist and European studies scholar with a strong focus on digital literacy. With experience in journalism, PR, marketing, IT and training she has excelled in Germany and abroad. As a manager for digital products in the online games and FinTech industry she gained deep insights into online platforms and communities. Simone is the author of "Digital Consciousness" ("Das digitale Bewusstsein") and currently works at Otto GmbH, leveraging her expertise in business transformation.

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