Was hat Verhaltensökonomie mit Digitalisierung zu tun?

ALLES und trotzdem scheinbar NICHTS! - Verhaltensökonomie leicht erklärt

Wie kann man smarte Entscheidungsarchitektur und Verhaltensökonomie in Zeiten von Digitalisierung und digitalen Geschätsmodellen nutzen?

„Marketers and advertisers have spent over a century throwing spaghetti at the wall and hoping it will stick.“ – Martin Lindstorm

Ich finde es ist an der Zeit, den Diskurs rund um Digitalisierung um eine zusätzliche Dimension zu erweitern. Marketing-, Sales- und UX-Experten vertrauen seit Jahrzehnten auf ihre Intuition, ihre Erfahrung, auf quantitative (Markforschung) und qualitative (u.a. Kundenumfragen, Tiefeninterviews, etc.) Erhebungen oder kopieren, was bei anderen vermeintlich gut funktioniert hat. Best Practice heisst das schöner ausgedrückt. Rund 95% der neu lancierten Produkte verschwinden bereits nach 3 Monaten wieder, weil sie keinen Absatz finden, obwohl die Verantwortlichen ihre Hausaufgaben im Vorfeld scheinbar gemacht haben. Wie kann das passieren? Wissen wir wirklich was der Kunde will? Warum kauft er und wieviel ist er bereit zu bezahlen? Unsere Annahmen und Hypothesen werden mit Hilfe von Instrumenten und Methoden (u.a. die genannten Kundenumfragen oder Mafos) geprüft, die allesamt auf der einen, omnipräsenten Theorie fussen – der klassischen Ökonomie und ihrem rationalen Agenten dem Homo oeconomicus. Den kennen wir alle aber getroffen hat ihn noch keiner. Sein vermutlich nächster Verwandter ist wohl Mr. Spock, denn er sagt „all I know is logic“. Er ist ein emotionsloser Opportunist, der jederzeit rationale Entscheide hervorbringt. Entscheide gemäss der klassischen Theorie sind dann rational, wenn alle verfügbaren Informationen vorliegen und richtig bewertet werden, man auf der Zeitachse konsistent entscheidet, man nicht durch äussere Einflüsse beeinflusst wird und man dabei seinen eigenen Nutzen maximiert. Das Problem ist, dass weder der Homo oeconomicus noch Mr. Spock Menschen sind und rationale Entscheide weitestgehend eine Illusion darstellen.

Wir denken wir wären rationale Wesen

Wir sehen uns gerne als rationale Wesen und glauben Herr/Frau über unsere Entscheide zu sein.

Jedoch zeigt die bereits über fünfzigjährige Forschung der Verhaltensökonomie klar, dass wir Menschen systematisch von der Rationalitätsannahme der klassischen Ökonomie abweichen. Die Verhaltensökonomen nennen unser Entscheidungsverhalten freundlicherweise „begrenzt rational“. In Tat und Wahrheit agieren wir in vielen Fällen vollkommen irrational. Der Nobelpreisträger und Verhaltensökonom Daniel Kahneman spricht in diesem Zusammenhang vom sog. dualen Entscheidungssystem, wonach wir über zwei ganz unterschiedliche Entscheidungssysteme verfügen. Das System 1 ist das schnelle, automatische, intuitive, zeitsparende und stereotype System. Es ist unverzichtbar, weil wir gem. Studien die bis zu 20‘000 Entscheidungen pro Tag unmöglich alle durchdenken können. Leider ist dieses System fehleranfällig. Zu gerne schauen wir darüber hinweg, weil wir es so lieben mit System 1 zu entscheiden. Studien zufolge treffen wir bis zu 90% unserer Entscheidungen intuitiv mit dem System 1. Daneben existiert das System 2. Es ist das berechnende, abwägende und ressourcenintensive System. Wir benötigen es beispielsweise um eine Mathematikaufgabe zu lösen. Es führt zu rationaleren Entscheiden und weniger Fehlern, aber es ist langsam, anstrengend und die meisten von uns hassen es, wie wir gleich noch sehen werden.

Die systematischen Fehler, die wir im System 1 begehen sind in der Verhaltensökonomie insb. bekannt unter den Begriffen kognitive Verzerrungen (Biases) und Faustregeln (Heuristiken). Diese führen oft zu falschen Schlüssen und damit zu irrationalen Entscheiden, die uns manchmal sogar schaden. Das wirklich Interessante dabei ist aber nicht unsere Irrationalität per se, sondern die Tatsache, dass diese irrationalen Entscheidungsmuster systematisch auftreten. Das bedeutet wiederum nichts Anderes, als dass Entscheidungen prognostizierbar sind. Ein einfaches Beispiel:

Ein Tennisschläger und ein Tennisball kosten zusammen EUR 1.10. Der Tennisschläger kostet EUR 1.00 mehr als der Tennisball. Wie viel kostet der Ball?

A: EUR 0.20
B: EUR 0.10
C: EUR 0.05

Ich weiss, ohne jede Ihrer effektiven Antworten zu kennen, dass rund 60 – 70% von Ihnen auf EUR 0.10 getippt haben. Das ist keine Mentalmagie, sondern wissenschaftliche Evidenz. Diese und weitere Fragen wurden bis heute an jeder renommierten Universität den Studenten gestellt und ausgewertet. Ich selbe führe dieses kleine Experiment regelmässig an meinen Key Notes und Seminaren durch. Immer mit demselben Resultat. Die meisten Teilnehmer tippen auf EUR 0.10, weil unser Hirn aus den Zahlen EUR 1.10 und EUR 1.00 die Antwort zu wissen glaubt. Unser Gehirn glaubt das, was einfach verfügbar ist (sog. Verfügbarkeitsheuristik).

EUR 0.10 für den Ball anzunehmen, ist am Einfachsten verfügbar. Aber leider falsch.

Anhand dieses kleinen Beispiels sehen wir einerseits, dass wir Menschen systematische Fehler begehen, weil wir nicht nachdenken wollen und intuitiv entscheiden. Denn lösbar wäre die Aufgabe mit Nachdenken relativ einfach gewesen. Andererseits wird Ihnen klar, dass ich die Antworten mit der Art der Fragestellung und der Auswahloptionen beeinflusst habe. Ich wusste also, wie die Antworten in der Tendenz ausfallen werden, weil ich die Wahloptionen (A, B, C) basierend auf verhaltensökonomischem Wissen gestaltet habe. So ist die Option B nicht rein zufällig EUR 0.10 und auch nicht per Zufall in der Mitte zwischen den beiden anderen Optionen. Würde ich die Wahloptionen verändern, z.B. A: EUR 0.05 B: EUR 0.30 C: EUR 0.20, würden sich Ihre Antworten erheblich ändern. Von wegen wir sind Herr/Frau über unsere Entscheidungen.

Damit wären wir bereits mittendrin im Thema. Genauso wie man „nicht nicht kommunzieren“ kann, genauso kann man sein Gegenüber mit der Art der Darstellung „nicht nicht beeinflussen“. Die gezielte Gestaltung der Entscheidung unseres Gegenübers nennt sich Entscheidungsarchitektur. Die nicht gezielte Gestaltung nennt sich Marketing. Denn nur die erstere gestaltet Optionen und Darstellungen in der Weise, das prognostizierbare Entscheide des Gegenübers resultieren. Letztere werfen ja gem. Lindstorm  mit Spaghetti in der Hoffnung, dass einige davon haften bleiben. Eine bekannte Form von Entscheidungsarchitektur ist beispielsweise der Verkaufsgrundsatz: „Willst du ein teures Produkt verkaufen, stelle ein noch teureres daneben“. Und im physischen Detailhandel lautet die wohl bekannteste Entscheidungsarchitektur, „dass man Produkte, die man verkaufen will auf Augenhöhe platziert und nicht auf Knöcheltiefe“. Das sind zugegebenermassen alles ziemliche „No-brainer“ aber veranschaulichen einfach, was sich hinter Entscheidungsarchitektur verbirgt. Entscheidungsarchitekturen, basierend auf den neusten Erkenntnissen der Verhaltensökonomie, gehen, wie nachfolgendes Beispiel zeigt, bereits viel weiter.

Die untenstehende Darstellung zeigt auf der linken Seite das bisherige Inserat des „The Economist“ als Beispiel für schlechte (unbewusst gestaltete) Entscheidungsarchitektur.

Gute Entscheidungsarchitektur - Schlechte Entscheidungsarchitektur
Abbild 1: Entscheidungsarchitektur und dessen Auswirkungen – Quelle: The Economist

Verkaufen wollten sie natürlich das Kombi-Abo. Verkauft haben sie jedoch das Online-Abo in 68% der Fälle, weil die Entscheidung des Rezipienten nicht gestaltet wurde. Unter Beizug verhaltensökonomischer Insights, hat der Economist im darauf folgenden Inserat (rechts) ein zusätzliches Angebot ergänzt. Das Print-Abo. Da Menschen immer in Abhängigkeit von Referenzen entscheiden, also vergleichende und relative Entscheide treffen, wirkte das Kombi-Abo dank des Print-Abos plötzlich viel attraktiver. Das Online-Angebot erschien darin nämlich kostenlos. Alleinig durch das Hinzufügen des Print-Abos, welches de facto gar nicht verkauft werden sollte und nur als sog. „Köder“ diente, haben sich die Verkäufe des Kombi-Abos auf sagenhafte 84% gesteigert. Das sind unglaubliche 163% mehr. Wenn man sich zudem bewusst macht, dass diese Verkaufsförderungsmassnahme keinen zusätzlichen Dollar gekostet hat, wird einem klar, welch ungeheures Potenzial in Entscheidungsarchitektur steckt.

Dieses Praxisbeispiel ist nur eines unter tausenden von Beispielen aus aller Welt und aus sämtlichen Branchen. Dieses Beispiel nutzt den Entscheidungsmechanismus nur einer konkreten kognitiven Verzerrungen. Bis heute sind über 250 solcher Biases und Heuristiken bekannt. Dies zeigt, wie umfassend das Potenzial für die Gestaltung von Entscheidungen von Usern und Kunden wirklich ist.

Es erstaunt mich daher umso mehr, dass wie einleitend zitiert, die meisten Experten sich noch immer an veraltete und nachweislich falsche Modelle und Vorgehensweisen halten und weiterhin Spaghetti an die Wände werfen. Oder haben Sie in Ihrem Betrieb einen Wirtschaftspsychologen, Verhaltensökonomen oder Neuromarketer, der sich beispielsweise mit der Darstellung Ihrer Angebote beschäftigt? Oder verfügen Ihre externen Partner über dieses Wissen?

Reduzierte Aufmerksamkeit auf digitalen Kanälen

Gerade auf digitalen Kanälen reduziert sich die Aufmerksamkeit des Gegenübers auf das, was er auf dem Bildschirm sieht.

Umso elementarer wäre, insb. die Darstellung der Produkte oder Dienstleistungen aber auch User Journeys nicht dem Zufall zu überlassen. Ich nenne es Zufall, andere nennen es wie gesagt lieber Intuition, Erfahrung oder Best Practice. Letzten Endes ist das Resultat dasselbe. Der Erfolg bleibt reine Glücksache, solange wir die menschlichen Entscheidungsmuster nicht kennen und nicht bewusst die Entscheidungen unseres Gegenübers zu gestalten vermögen. Was mich zum zweiten Punkt führt, den mich die Verhaltensökonomie gelehrt hat. Wir Menschen lernen spielerisch. Praktisch von unserer ersten Stunde an ist das so. Dass wir Lernen können, hängt von zwei Grundvoraussetzungen ab. Erstens müssen wir die betreffende Handlung wiederholen können um lernen zu können und zweitens brauchen wir auf unsere Handlungen jeweils ein unmittelbares Feedback. Nur dann können wir nachjustieren. Beispiel Fahrradfahren. Wir müssen es immer wieder versuchen, denn nur zu wissen, was wir beim ersten Sturz falsch gemacht haben, reicht nicht aus, um behaupten zu können, dass wir Fahrradfahren können. Der Sturz ist wohl die direkteste Form von Feedback und zwingend notwendig für unsere Lernkurve. Aber irgendwann scheint es, wollen wir keine Fehler mehr machen. Irgendwann hören wir auf spielerischen Zugang zu Neuem zu wählen. Irgendwann haben wir das Gefühl, intuitiv alles bereits zu kennen und zu wissen. Wir hören auf besser werden zu wollen und werden träge und selbstgefällig. Status Quo Bias nennt dies die Verhaltensökonomie. Ja nichts ändern, bessern nicht entscheiden und im Status Quo verharren. Dann nennen wir experimentieren und spielerisches Lernen plötzlich „Trail and Error“, was eine verachtende, fast mitleidige Beurteilung dessen ist, was Lernen eigentlich ausmacht. Wer will schon „versuchen und scheitern“ und dies wiederholt? Aber es gibt auch Menschen, die haben den Zugang zum Lernen nicht verloren. Diese Menschen reden dann von „Test and Learn“, weil sie begriffen haben, dass wir nur durch Testen zu Evidenz gelangen können. In einer VUCA-Welt sowieso, in der alles volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig ist. Hätte Gregor Mendel die Genetik anhand von Elefanten erforscht, stünden wir heute nirgends. Die Reproduktionsrate von diesen Tieren ist einfach zu lange. Der physische Handel ist ein solcher Elefant. Neues zu testen ist aufwändig, teuer und langsam. Die digitalen Medien hingegen sind wahre Fruchtfliegen. Mendels Forschungsgegenstand, die Drosophila melanogaster, mit einer Reproduktionsrate von nur ein paar Tagen, ermöglichte es ihm innert kürzester Zeit die Resultate seiner Experimente verfügbar zu machen. Dass man mit den Onlinekanälen über ein kaum zu überbietendes Instrument mit kurzer Reproduktionsrate und hoher Aussagekraft verfügt, ist bisweilen systematisch noch nicht verstanden. Gerade der Mittelstand aber auch viele Konzerne (mit Ausnahme der Techgiganten wie die GAFA), sind der hervorragenden Ausgangslage ihrer digitalen Kanälen kaum bewusst. Verfügen sie doch über ein regelrechtes Labor, in welchem man praktisch ohne Kosten in hoher Kadenz Experimente durchführen kann. Experimente, welche Evidenz liefern. Anstelle zu raten, welches Produkt wo, wie und in Bezug zu welchem anderen präsentiert werden soll oder wie ein Formular auszugestalten ist, damit die Abbruchrate sinkt, müssten diese Fragen alle unisono mittels Experimente beantwortet werden. Wie viele Experimente macht Ihr Unternehmen? Eines pro Tag? Pro Woche? Pro Monat? Pro Jahr? Ich fürchte ich kenne auch hier die Antworten in der Tendenz. Kein Kanal verfügt über eine derart hohe Reproduktionsrate zu derart geringen Kosten wie der Onlinekanal. Sie könnten täglich duzenden, ja hunderte Experimente durchführen (abhängig vom Traffic auf Ihren Kanälen). Aber stattdessen sitzen wir in Elfenbeintürmen vor Flipchart und Pinwand oder befragen Kunden, obwohl insb. Neuromarketing nachweisen konnte, dass Kunden nicht wissen, weshalb sie etwas kaufen oder nicht eben nicht kaufen.

Entscheidungsarchitektur und Experimentieren

Und genau an dieser Stelle kommen Entscheidungsarchitektur und Experimentieren zusammen.

Ohne das Wissen um die menschlichen Entscheidungsmuster können Sie auch experimentieren. Klar. Sie beginnen möglicherweise einfach ganz am falschen Ende und müssen sich mit vielen Experimenten schrittweise der Ideallösung annähern. Das ist auch auf dem Onlinekanal ein mühseliger und ineffizienter Weg und schlicht eine Zeitverschwendung. Stattdessen könnten Sie dank der Erkenntnisse der Verhaltensökonomie bereits am richtigen Ende des Spektrum einsteigen und die Experimente dazu nutzen, funktionierendes auf Ihre konkrete Situation (Kunden, Produkte, Markt, Konkurrenz, etc.) noch besser abzustimmen.

In den letzten Jahren hatte ich Zeit, mich mit der hier präsentierten, teilweise harten Realität anzufreunden. Meine unzähligen Lektionen in klassischer Ökonomie, meine Meinung über meine eigenen Entscheidungsfähigkeiten, mein Verständnis vom Funktionieren der Wirtschaft also solche und mein Glaube an meine Erfahrung und Intuition habe ich allesamt revidieren müssen. Diesen Prozess mussten Sie nun im Eiltempo mit dem Lesen meines Artikels durchlaufen. Es mag Ihnen vieles fremd, provokant und realitätsfern erscheinen. Womöglich auch ein wenig arrogant und rechthaberisch. Bitte glauben Sie mir, es liegt mir fern, Sie, werte/r Leserin/Leser mit meinen Ansichten und Erkenntnissen vor den Kopf zu stossen. Sollte ich Sie dennoch brüskiert haben, dann liegt das schlicht an meiner eigenen Unzulänglichkeit, Ihnen die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieses Themas in unter 2‘000 Wörtern schonender darzulegen.

Die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte verhaltensökonomischer Forschung liegen zu unseren Füssen, wir brauchen sie nur aufzuheben. Packen wir es an. Jetzt.

Der Entscheidungsarchitekt unterstützt und berät seit über 15 Jahren Entscheider. Er ist innovativer Macher, Querdenker und Visionär. Sein profundes Wissen in Verhaltensökonomie, Entscheidungsarchitektur, Behavioral Design macht seine Kunden noch erfolgreicher. Er ist zudem Founder & CEO der Human Decision Design GmbH, welche ab 2020 Verkaufsseminare & -trainings anbietet. Er ist Buchautor und gefragter Key Note Speaker im deutschsprachigen Raum.
Quelle Entscheidungsarchitekt

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.

This website uses cookies to improve your experience. We'll assume you're ok with this, but you can opt-out if you wish. Accept Read More