Digitalisierung – Definitionen und Bedeutung

Was ist Digitalisierung? Hier erklären wir die tätigkeitsbasierte sowie die eigenschaftsorientierte Definition von Digitalisierung und Digitalisaten.

Die Schaffung eines Diskussionsrahmens zur direkten Bewertung des Nutzens von Digitalisierung ist eine der zentralen Herausforderung in der Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet. Gerade im Kontext der allgemeinen Nutzungserweiterung des Begriffs von einer engeren technischen Definition zum Naisbitt’schen «Megatrend» lässt der Frage, welchen Nutzen bzw. gesellschaftlichen Wert Digitalisierung aus sich erbringt, besondere Relevanz zukommen. Der folgende Essay untersucht Möglichkeiten, die heute gebräuchlichen tätigkeitsbasierten Definitionen um eigenschaftsbasierte Elemente zu ergänzen und somit eine bessere Grundlage für die kontextneutrale Nutzenanalysen der Digitalisierung zu schaffen.

Die Schaffung eines Diskussionsrahmens zur direkten Bewertung des Nutzens von Digitalisierung ist eine der zentralen Herausforderung in der Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet. Gerade im Kontext der allgemeinen Nutzungserweiterung des Begriffs von einer engeren technischen Definition zum Naisbitt’schen «Megatrend»[1] lässt der Frage, welchen Nutzen bzw. gesellschaftlichen Wert Digitalisierung aus sich erbringt, besondere Relevanz zukommen.

Der folgende Essay untersucht Möglichkeiten, die heute gebräuchlichen tätigkeitsbasierten Definitionen um eigenschaftsbasierte Elemente zu ergänzen und somit eine bessere Grundlage für die kontextneutrale Nutzenanalysen der Digitalisierung zu schaffen.

Tätigkeitbasierte Definition der Digitalisierung

Der Begriff Digitalisierung geht wahrscheinlich auf die Wortstämme für Finger «Digitus» im Lateinischen und Ziffer «Digit» aus dem Englischen zurück. Digitalisierung im ursprünglichen Wortsinn bedeutet somit Zählen und beschreibt eine Tätigkeit.

Als Digitalisierung kann somit die Transformation von Objekten aus unendlichen, analogen[2] Werten durch Aussonderung[3] in endliche Abbildungen, sog. Digitalisate[4], bezeichnet werden[5].

Digitalisierung und Modelltheorie

Digitalisate vereinfachen aufgrund ihrer Endlichkeit die ihnen zugrundeliegenden unendlichen, analogen Objekte. Bei der Digitalisierung handelt es sich somit um eine Form der Modellbildung, die mittels der Allgemeine Modelltheorie von Herbert Stachowiak[6] analysiert werden kann. Gemäss Stachowiak besitzen Modelle drei zentrale Eigenschaften:

  • Sie sind das Abbild eines analogen Objekts (Abbildungskriterium)
  • Sie übernehmen nicht alle Eigenschaften des abgebildeten Objekts, sondern fokussieren (Verkürzungskriterium)
  • Sie werden auf bestimmte Verwendungszwecke hin geschaffen (Pragmatismuskriterium)

Die Digitalisierung bildet gemäss obiger Definition Modelle analoger Objekte ab. Dabei verkürzt die Digitalisierung die unendlichen Ausprägungsmöglichkeiten der Eigenschaften des analogen Objekts in eine endliche Menge. Bei der Digitalisierung von Musik werden beispielsweise die im Analogen unendlichen Kombinationsmöglichkeiten von Frequenzen und Amplituden mittels Technik auf eine endliche Menge reduziert. Die resultierenden Digitalisate haben gegenüber ihren analogen Vorbildern eine Reihe von Vor- und Nachteilen[7]. Die Digitalisierung als Tätigkeit der Umwandlung ist jedoch inhärent zweckfrei, da sie keine Verwendung der resultierenden Modelle definiert. Das Stachowiak’sche Pragmatismuskriterium bleibt in diesem Definitionsansatz unbeantwortet.

Von der tätigkeitsorientierten zur eigenschaftsorientierten Digitalisierungsdefinition

Der offene Verwendungszweck tätigkeitsbezogener Digitalisierungsdefinitionen ist das zentrale Hindernis für die Entwicklung eines Diskussionsrahmens zur generischen Nutzenbewertung von Digitalisierung. Gemäss dieser Art von Definitionen bilden Digitalisierungen nicht die Grundlage von Nutzen, sondern erhalten ihren Nutzen erst durch Kombination mit Kontext. Die resultierende Nutzenanalysen bewerten somit nicht den Nutzen von Digitalisierungen an sich, sondern die Verwendung von Digitalisierungen in definierten Kontexten. Die Entwicklung eines Diskussionsrahmen zur direkten, d.h. so weit wie möglich kontextunabhängigen, Bewertung von Digitalisierung ist auf Basis dieser Definitionen nicht möglich.

Die Annäherung an eine direkte Nutzenbewertung von Digitalisierung erfordert eine Veränderung der Begriffsdefinition unter Verwendung von Elementen, welche kontextunabhängigere Analysen ermöglichen.

Einen Ansatzpunkt für eine solche Transformation bietet eine Klassifikation der menschlichen Geschichte. «Das sog. Dreiperiodensystem ist eine wissenschaftliche Systematik der Archäologie, welches die europäische Urgeschichte anhand charakteristischer Materialien zur Werkzeug-, Waffen- und Schmuckherstellung in die drei Perioden Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit gliedert. [8]» Diese Einteilung bietet der Archäologie die Möglichkeit der pragmatischen Zuordnung von Untersuchungsorten zu bestimmten Zeitperioden auf Basis der Materialien der Fundstücke. Gleichzeitig reflektiert sie die Spitzenleistungen der Verarbeitungsfähigkeiten der Menschen der entsprechenden Zeitperioden.

Aber warum kamen Menschen auf die Idee, Bronze durch Eisen zu ersetzen? In ihrem Fokus lag wohl nicht die Art der Verarbeitung, sie waren vielmehr an den Eigenschaften der verwendeten Materialien interessiert. Bearbeitetes Eisen ist z.B. deutlich härter als Bronze und lässt sich besser schärfen. Zudem bietet es in der Verbindung mit Kohlenstoff als Stahl eine Vielfalt unterschiedlicher Kombinationen von Materialeigenschaften. Der Nutzen von Eisenobjekten ist in den meisten Kontexten höher als der von vergleichbaren Bronzeobjekten, sei es in Form von Alltagsgegenständen, Gebäuden oder Waffen[9]. Eisen weist im Allgemeinen einen höheren Nutzwert für Menschen auf als Bronze. Dieser Mehrnutzen ist weitgehend kontextunabhängig und kann somit als inhärent bezeichnet werden.

Wenn der durch der durch die Digitalisierung ausgelöste Umbruch so gross ist, dass es die Grundlage für ein neues «Digitalzeitalter» bildet, welches den Zeitaltern des Dreiperiodensystems gleicht, so müssten die Ergebnisse der Digitalisierung, nämlich der Digitalisate, einen inhärent höheren Nutzwert aufweisen als die analogen Objekte, welche sie ersetzen.

Durch Veränderung der Definition der Digitalisierung weg vom Tätigkeitsfokus der Verarbeitung hin zum Eigenschaftsfokus der Ergebnisse kann somit die Grundlage für eine kontextunabhängigere Analyse dieses Nutzens schaffen.

Eigenschaften von Digitalisaten

Welche zentralen Eigenschaften haben digitale Abbilder von analogen Objekten, die sie ihrem Vorbild so überlegen erscheinen lassen?

1. Virtualisierung

Digitalisate werden durch elektrotechnische Transformation geschaffen; sie sind damit für die Welt der Newtonschen Mechanik immateriell und können mit den menschlichen Sinnen nicht direkt wahrgenommen werden. Ihre Nutzung durch Menschen benötigt technische Geräte, welche ihnen Zugriff auf digitale Funktionen ermöglichen, z.B. Computer oder Smartphones. Die physischen Komponenten dieser technischen Geräte, welche als Träger digitaler Modelle und Brücke in die analoge Welt dienen, werden häufig als Hardware[10] bezeichnet und die darauf ausgeführten Digitalisate als Software[11]. Digitalisate stellen ihre Funktionen mittels dieser Träger bereit. Der resultierende Funktionsumfang wird durch die Eigenschaften des Digitalisats und der genutzten Hardware bestimmt. So kann digitalisierte Musik über die Lautsprecher von Smartphones z.B. die Leistungen von Orchestern und Popgruppen in Form von Musikstücken bereitstellen.

Während Digitalisate mittels geeigneter Hardware Musik bereitstellen können, weisen sie weder die Essenz noch die Struktur der Musikgruppen auf, sie sie wiedergeben. Sie simulieren das Musikstück lediglich. Entitäten, die wesentliche Merkmale anderer Entitäten aufweisen, aber nicht deren strukturellen Kern besitzen werden als Virtualisierungen[12] oder auch Simulacren[13] bezeichnet.

Digitalisate weisen aufgrund ihrer Transformation immer einen anderen strukturellen Kern auf als ihre analogen Vorbilder, auch wenn sie vergleichbare Eigenschaften aufweisen. Jedes Digitalisat ist somit automatisch eine Virtualisierung. Dies unterscheidet sie aber nicht unbedingt von analogen Virtualisierungen. So kann Musik, welche mittels Smartphones digital wiedergegeben wird, in gleicher Weise über analoge Träger wie Kassetten- und Plattenspieler bereitgestellt werden. Diese technische Virtualisierung in ihrer analogen Form, z.B. in Form von wächsernen Tonträgern oder analogen Fotos, existiert bereits seit dem 19. Jahrhundert und ist damit deutlich älter als die Digitalisierung, deren Ursprünge auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Virtualität ist also eine inhärente Eigenschaft von Digitalisaten aber keine exklusive; analoge Simulacren existieren bereits deutlich länger ihre digitalen Pendants.

2. Supramedialität

Digitalisate weisen aber weitere Eigenschaften auf, die ihre analogen Vorbilder nur teilweise oder gar nicht aufweisen:

  • Sie sind in der Lage unterschiedliche Träger für ihre Simulationen zu verwenden.
  • Sie verbreiten sich immer duplizierend, d.h. sie erzeugen «Kopien» der Digitalisate bei den Empfängern, die von den «Originalen», welche die Sender weiter im Zugriff haben, nicht zu unterscheiden sind[14].
  • Sie können zur Verbreitung parallel unterschiedliche Übertragungsmedien gleichzeitig sendend und speichernd nutzen.[15]

So können digitale Inhalte, wie Musik, Videos oder Dokumente, von Smartphones auf Computer oder auch mit entsprechender Digitaltechnik ausgestatteten Kühlschränken mittels unterschiedlicher Übertragungstechniken über weite Strecken transferiert und auf allen empfangenden Geräten gleichzeitig genutzt werden. Gleichzeitig können Digitalisate alle Geräte, sofern sie über die geeignete Hardware verfügen, z.B. SD-Karten[16] als Speichermedien verwenden.

Der Grund für diese Eigenschaft liegt in der digitalen Transformation begründet, deren Abbildungen endlich sind[17] und alle die binäre Basiskodierung bzw. dazu kompatible Varianten verwenden[18]. Somit sind alle Digitalisate mathematisch ineinander überführbar, auch wenn dies aufgrund des Kontextverlustes in vielen Fällen zu funktionstechnisch sinnlosen Ergebnissen führt. Die Rekodierung digitaler Bilder in Audiodateien ist mathematisch möglich; die Ergebnisse sind aber aufgrund des Kontextverlusts der Kodierung in den meisten Fällen sinnloses Rauschen, welche jedoch trotzdem durch geeignete Hardware abspielbar ist. Die gemeinsame Code-Basis ermöglicht es auch allen Digitalisaten, d.h. z.B. Fotos, Musik oder auch Programmcode, die gleichen Übertragungs- und Speichermedien zu verwenden[19].

Analoge Simulacren bilden in einen unendlichen Werteraum ab und besitzen keine normierte Transformationslogik. Beide Elemente werden von den gewählten technischen Lösungen vorgegeben. So erfolgt die Virtualisierung von Musik auf Kompaktkassetten zwar elektromagnetisch, aber mit analog abbildendender Transformationslogik[20]. Analoge Virtualisierungen sind somit an ihren jeweiligen technischen Träger gebunden. Eine Übertragung der Virtualisierung von Kompaktkassetten auf andere Kassettentypen ist nicht direkt möglich, genau so wenig wie die Übertragung auf Schallplatten, welche neben anderen Transformationslogiken mechanische Virtualisierungstechniken verwenden[21].

Die Duplizierung analoger Simulacren funktioniert daher nur innerhalb der gleichen technologischen Basis und unter Verwendung identischer Transformationslogiken. Der direkte Transfer von Inhalten zwischen Kompaktkassetten ist nur mittels spezieller technischer Geräte möglich[22]. Gleichzeitig führt die Abbildung aufgrund der ins Unendliche abbildenden Transformationslogik zu Abweichungen zwischen den Originalen und den Kopien; analoge Duplikationen sind damit nicht verlustfrei, sondern verlieren mit jedem Duplikationsvorgang an Qualität[23].

Duplizierungen zwischen unterschiedlichen analogen Simulacren ist aufgrund der unterschiedlichen Transformationslogiken und Trägertechnologien nicht direkt möglich, sondern nur durch erneutes Abbilden einer original oder simuliert erzeugten Leistung. So ist die Übertragung eines Musikstücks von einer Schallplatte auf eine Kompaktkassette nur durch «Aufnehmen» der durch die Platte reproduzierten Klänge möglich. Dieser Umweg ist aufwändig und stark verlustbehaftet. Aus diesem Grund hat keine der duplizierbaren analogen Konsumententechniken, egal ob für Ton, Bilder oder andere Inhalte, je das Erstellungsmonopol der jeweiligen Industrien gefährdet.

Wie bei den Speichermedien benötigen analoge Simulacren auch individuelle Übertragungskanäle, welche die Besonderheiten der jeweiligen Technologien berücksichtigen. Gleichzeitig nimmt das Problem der Übertragungsverluste mit zunehmender Entfernung exponentiell zu. Obwohl theoretisch möglich, entwickelte sich aus diesen Gründen keine Übertragungsmedien, die analoge Simulacren über weite Distanzen duplizierend übertragen konnten.

Gleichzeitig war die Übertragung analoger Simulakren ohne Speicherung in Form von Telefonen, Radio- und Fernsehübertragungen mehr als ein Jahrhundert sehr erfolgreich und bis ins beginnende 21 Jahrhundert die dominante Form der synchronen Ausstrahlung (Uni- bzw. Broadcast), wobei der Schwerpunkt auf die Minimierung der Verluste bei der Übertragung über weite Distanzen und nicht auf die Speicherfähigkeit gelegt wurde. Aufgrund der resultierenden technologiebasierten Lücken zwischen analogen Übertragungs- und Speichermethoden konnte kein analoges Simulacrum beide Eigenschaften vereinen, d.h. es war entweder speicherbar oder über Distanzen übertragbar[24].

Im Bereich der von Menschen geschaffenen Konstrukte bleibt die Fähigkeit sich über Entfernung mittels verschiedener Übertragungskanäle zwischen unterschiedlichen Trägern verlustfrei duplizierend zu vervielfältigen aktuell den Digitalisaten vorbehalten. Sie wird im Folgenden unter dem Begriff «Supramedial[25]» zusammengefasst.

3. Dualität

Wie im Abschnitt Virtualisierung beschrieben, umfasst der Begriff Digitalisate sowohl digitale Inhalte, u.a. in Form von Texten, Sprach- bzw. Videoaufzeichnungen und Bilder, als auch digitale Ablaufsteuerungen in Form von Software, wie sie in Computern und anderer digitalgesteuerter Hardware als Programmcode zum Einsatz kommt.

Viele Definitionen trennen dabei die beiden Formen von Digitalisaten als vollständig unabhängige Ausprägungen, d.h. Software nutzt und produziert digitale Inhalte, ist jedoch selbst kein Inhalt. Diese Definition ist sowohl in der Theorie als auch der Praxis als falsch wiederlegt. Die Domänentheorie weist nach, dass Funktionen – d.h. Software – als Inhalte für andere Funktionen dienen können[26]. So ist z.B. der Quelltext[27], d.h. die menschenlesbare Form, eines Programms für den Compiler, der ihn in Maschinensprache umsetzt, ein digitaler Inhalt. Gleichzeitig existieren Digitalisate, welche Eigenschaften von Inhalten und Funktionen aufweisen. Eine der an der weitesten verbreiteten Form sind Dokumente der Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und Präsentationen. Diese Dokumente sind im Kern digitale Inhalte, können aber – z.B. durch Makros oder Skriptprogrammiersprachen – auch Funktionen beinhalten. Eine noch engere Integration zwischen Inhalten und Funktionen findet sich in Webseiten, die ein Sammelsurium inhaltlicher (z.B. in Form von HTML und CSS[28]) und funktionaler Elemente (z.B. in Form von Javascript oder PHP[29]) bilden.

Diese beliebige Kombination von Funktionen und Inhalten, im Folgenden als Dualität bezeichnet, unterscheidet Digitalisate von analogen Simulacren. Ähnlich der Supramedialität ist sie der Endlichkeit der digitalen Transformation (Digitalisierung vs. Digitale Transformation) geschuldet. Digitale Inhalte und Funktionen verwenden die gleiche Abbildungsbasis und sind damit kombinierbar und ineinander überführbar. Die Tatsache, dass alle Digitalisate Inhalte und Funktionen besitzen können, hat auch unerwünschte Nebeneffekte. So verbreiten sich die meisten unerwünschten Funktionen, in Form von sog. Schadcode, als für Menschen unsichtbarer Teil von sichtbaren digitalen Inhalten, z.B. in Form von Texten oder Bildern.

4. Emergenz

Die Supramedialität und die Dualität verschaffen Digitalisaten erhebliche Vorteile gegenüber analogen Simulacren. Die zugrundeliegende endlich normierende Transformation ist auch das Fundament für eine weitere Eigenschaft, die Digitalisaten analogen Simulacren voraushaben.

«Emergenz (lateinisch emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) bezeichnet die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente.»[30] Aufgrund ihrer Normierung können Digitalisate auch nach der ursprünglichen Digitalisierung ständig verändert werden und so bestehende Eigenschaften verbessern und neue Eigenschaften erhalten.

Die Auswirkungen der Emergenz von Digitalisaten können enorm sein. Als die Musikindustrie die Audio Compact Disc (CD) als Nachfolger der Schallplatte positionierte, war ihr wahrscheinlich nicht bewusst, dass dies ein wichtiger Baustein der Zerstörung ihres eigenen Geschäftsmodells werden sollte. Audio CDs speichern Digitalisate von Musik, die alle der unter Supramedialität beschriebenen Eigenschaften aufweisen, darunter auch die verlustfreie duplizierende Übertragung. Digitalisate auf Audio CDs sind in PCM[31] kodiert und belegen pro 5 Minuten etwa 45 MB Speicherplatz. Dieser grosse Speicherbedarf verhinderte das kommerziell sinnvolle Kopieren von Musik auf andere digitale Träger auch noch 20 Jahre nach deren Einführung. Die Entwicklung von MP3[32] ermöglichte es den Speicherbedarf von Musikdigitalisaten um fast den Faktor 10 von z.B. 45 MB auf 5 MB ohne hörbaren Qualitätsverlust zu senken. Konsumenten können durch Rekodierung mit MP3 die Eigenschaft Speicherplatzbedarf ihrer Digitalisate soweit senken, dass die Speicherung auf anderen Medien als CDs und der Transfer über Datenleitungen Anfang der 2000 Jahre praktikabel wurde. Die Emergenz der Rekodie­rung der Musik-Digitalisate von PCM zu MP3 zerstörten so den speicherplatzbedingten Schutzmechanismus der Musikindustrie. MP3-kodierte Musik war nicht mehr an physische Träger oder Verbreitungskanäle gebunden; die resultierende Nutzung der Supramedialität digitaler Musik durch Konsumenten liess das Geschäftsmodell der Musikindustrie implodieren und führte zum Aufstieg von Streamingdiensten als zentraler Verteiler von Musik-Simulacren.

Die Schaffung neuer Eigenschaften wird besonders durch die Normierung begünstigt. So können die Funktionen unterschiedlicher Digitalisate durch Emergenz kombiniert und fusioniert werden. Diese Aufhebung der Grenzen zwischen digitalen Funktionen und Inhalten erlaubt die kontinuierliche Erstellung neuer Kombinationen. So entwickeln sich digitale Ablaufsteuerungen als Programmcode bzw. Software durch kontinuierliche Anpassung ihrer Ablauflogik und konstante Kombination mit digitalen Inhalten immer weiter. Jede neue Version kann auf unzähligen bestehenden aufsetzen. So ist es Digitalisaten als Software heute möglich Sprachen ineinander zu übersetzen, Auto zu fahren und besser Schach sowie Go zu spielen als Menschen.

Mit der Rekursion von Funktionen hin zum ablaufgesteuerten Lernen können sich Digitalisate ohne menschlichen Eingriff ändern; eine Entwicklung, die nach der Meinung einer Reihe von Forschern zur Singularität, d.h. dem Schaffen digitaler Intelligenz, führen könnte. Zum aktuellen Zeitpunkt sind die Eigenschaften der am Weitesten entwickelten Digitalisate mit denen von Viren vergleichbar. Viren basieren wie Digitalisate auf einer endlichen allerdings vierwertigen Transformationslogik der DNS[33]. Viren und Digitalisate weisen vergleichbare Eigenschaften auf, u.a. die Möglichkeit der Verwendung unterschiedlicher Träger, der Nutzung unterschiedlicher Übertragungsmedien und der Reproduktionsfähigkeit. Viren sind im Gegensatz zu Digitalisaten zwar materiell und nicht virtuell, verhalten sich aber supramedial und emergent. Der Begriff des «Computervirus» für Digitalisate, welche ungewünschte Funktionen auf Trägern ausführen, ist konzeptionell für alle Digitalisate wahrscheinlich zutreffender als von den Wortschöpfern beabsichtigt[34].

Die Kombination von Virtualisierung, Supramedialität und Emergenz ermöglicht es Digitalisaten Funktionskombinationen abzubilden, die analog nicht abbildbar sind. Zudem können Digitalisate kontinuierlich modifiziert werden; sie sind niemals «fertig», sondern nur funktional oder nichtfunktional, stabil oder instabil. Diese Eigenschaften machen sie analogen Simulacren unabhängig von spezifischen Kontexten überlegen.

Eigenschaftsorientierte Definition der Digitalisierung

Die zu Beginn beschriebene Definition der Digitalisierung als Transformation von Objekten aus unendlichen, analogen Werten durch Aussonderung in endliche Abbildungen, sog. Digitalisate, wird folgendermassen modifiziert:

Unter Digitalisierung wird die Virtualisierung analoger Objekte durch Transformation in endliche, supramediale, duale und emergente Abbildungen verstanden. Diese Abbildungen werden als Digitalisate bezeichnet.

Diese Ergänzung der tätigkeitsorientierten Definition von Digitalisierung um den Eigenschaftsbezug der Ergebnisse schaffen die Grundlage für eine kontextunabhängigere Nutzenbewertung, die sich aus der Relevanz der digitalen Eigenschaften für die untersuchten Anwendungsfälle ableiten lässt.

Referenzen

[1] s. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Trend_(Soziologie)#Megatrend (28.02.2021): «Der US-amerikanische Zukunftsforscher John Naisbitt prägte den Begriff Megatrend.Dieser beschreibt lang anhaltende gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen, die zahlreiche Lebensbereiche (u. a. Arbeitswelt, Konsum- und Freizeitverhalten, Gesundheit, Bildung, kulturelle Identität und politische Teilhabe) massiv beeinflussen. Megatrends verändern das Leben aller Menschen weltweit, wirken in verschiedenen Regionen und Gruppen aber unterschiedlich, zeitlich versetzt und keineswegs immer stetig voranschreitend.

[2] Der Begriff Analog entstammt dem altgriechischen análogos, welches «dem Logos [Erkenntnisgewinn aus der natürlichen Wirklichkeit], der [die Natur wahrnehmenden] Vernunft entsprechend» bedeutet (vgl.: https://www.duden.de/rechtschreibung/analog_Adjektiv) (14.02.2021)

[3] Der Begriff Aussonderung ist dem Aussonderungsaxiom der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre entnommen, welches die Abbildung von Mengen definiert. https://de.wikipedia.org/wiki/Zermelo-Mengenlehre (28.02.2021)

[4] Als Digitalisat wird das «Endprodukt oder Ergebnis einer Digitalisierung» bezeichnet Quelle: https://www.wortbedeutung.info/Digitalisat/ (28.02.2021)

[5] Vgl. auch Definitionen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Digitalisierung (14.03.2021) , https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/digitalisierung-54195 (14.03.2021), https://digital-magazin.de/digitalisierung-definition/ (14.03.2021)

[6] Herbert Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie, 1973

[7] vgl. z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Digitalisierung#Vor-_und_Nachteile (28.02.2021)

[8] siehe. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Dreiperiodensystem (06.03.2021)

[9] Die Hohe Wert der Nutzung von Eisen und Stahl durch die Menschheit ist bis heute ungebrochen. Mehr als 90% der weltweiten Metallproduktion entfällt auf Stahl https://de.m.wikipedia.org/wiki/Stahl (06.03.2021).

[10] Die Begriff Hardware stammt aus dem Englischen. Im ursprünglichen englischen Wortsinn bedeutet Hardware «Eisenwaren» und wird auch heute noch in diesem Kontext verwendet.

[11] Der Ausdruck Software ist ein Kunstwort, das von John W. Tukey im Jahr 1958 im American Mathematical Monthly als Gegenstück zu dem wesentlich älteren Wort Hardware im Kontext von Computersystemen das erste Mal verwendet wurde, s.: John W. Tukey: The Teaching of Concrete Mathematics. In: The American Mathematical Monthly. Vol. 65, no. 1, Jan. 1958, S. 2., JSTOR 2310294

[12] Der Begriff virtuell leitet sich aus dem französischen Wort «virtuel» ab, welches «fähig [etwas zu tun] bedeutet», siehe auch https://www.wortbedeutung.info/virtuell/ (06.03.2021).

[13] «Als Simulacrum oder Simulakrum (Plural: Simulacra oder Simulakren) bezeichnet man ein wirkliches oder vorgestelltes Ding, das mit etwas oder jemand anderem verwandt ist oder ihm ähnlich ist. Der lateinische Ausdruck simulacrum leitet sich über simulo („Bild, Abbild, Spiegelbild, Traumbild, Götzenbild, Trugbild“) von simul („ähnlich, gleich“) ab.», s. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Simulacrum (06.03.2021). Der Begriff Simulacrum ist weniger gebräuchlich als die Virtualisierung, als Substantiv aber deutlich präziser, weswegen er im vorliegenden Text Verwendung findet.

[14] Das der Transfer durch Kopieren der natürliche Verbreitungsmechanismus von Digitalisaten darstellt, lässt sich bei der Computerfunktion des «Ausschneidens» beobachten, welche aus einem Kopierbefehls von Digitalisaten an ein Ziel und einem anschliessen Löschbefehl aller Digitalisate im Ursprungsbereich besteht.

[15] Als immaterielle Objekte können Digitalisate jede Form elektromagnetischer Wellen zur Übertragung nutzen, z.B. einen physischen Datenträger (z.B. Festplatte), ein physische Übertragungsmedium (z.B. Kabel) oder eine direkte elektromagnetische Übertragung (W-LAN). Sender und Empfänger können in Abstimmung entscheiden, ob die übertragenen Digitalisate synchron. d.h. direkt beim Empfang, verwendet werden müssen (z.B. im Streaming) oder gespeichert werden dürfen. Sofern die Übertragungskapazität ausreicht, können mehrere Digitalisate dabei Kombinationen der Übertragungswege parallel nutzen.

[16] SD Karten: Secure Digital Memory Card = Sichere digitale Speicherkarte

[17] Die Verwendung von endlichen Abbildungsräumen bietet gemäss des Nyquist-Shannon-Abtasttheorems die Möglichkeit von Fehlerkorrekturen bei Duplizierungen und Übertragungen und somit scheinbar «verlustfreie» Durchführungen, vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Nyquist-Shannon-Abtasttheorem

[18] In der modernen Digitaltechnik hat sich die zweiwertige Kodierung oder auch Binärkodierung als Grundlage der Informationsspeicherung durchgesetzt. Die Übertragung über analoge Signale erfolgt dabei z.B. über die Manchester-Kodierung: https://de.wikipedia.org/wiki/Manchester-Code (06.03.2021)

[19] Speicher- und Übertragungsmedien konvergieren zunehmend, d.h. die Speicherung und Übertragung verschmelzen aus Nutzersicht immer mehr, z.B. in Form von SD Karten und USB Sticks, sowie Netzwerkspeichern, welche an jedem Ort mit einer funkgestützten Datenverbindung zugreifbar sind.

[20] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kompaktkassette (13.03.2021)

[21] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schallplatte (13.03.2021)

[22] Im Konsumentenkontext waren dies z.B. Doppelkassettendecks.

[23] Bei analogen Duplikationen spricht man auch von Generationen – d.h. Kopiervorgängen – welche zwischen dem Original «Master» und dem Duplikat liegen.

[24] Eine Kombination beider Eigenschaften erforderte die Kombination unterschiedlicher analoger Simulacren, wie z.B. die Aufnahme von Radiosendungen auf Kompaktkassetten oder die Aufnahme von Fernsehsendungen auf Videokassetten.

[25] Supra ist die lateinische Vorsilbe für Über, d.h. Digitalisate sind  verhalten sich «Übermedial»

[26] s. https://en.wikipedia.org/wiki/Domain_theory (30.03.2021)

[27] vgl.. https://de.wikipedia.org/wiki/Quelltext (30.03.2021)

[28] HTML = Hypertext Markup Language; CSS = Cascading Style Sheet

[29] PHP = „PHP: Hypertext Preprocessor“, ursprünglich „Personal Home Page Tools“, s. https://de.wikipedia.org/wiki/PHP (30.03.2021)

[30] s. https://de.wikipedia.org/wiki/Emergenz (23.03.2021)

[31] PCM = Pulse Code Modulation, die bevorzugte digitale Speicherung auf Audio Compact Disks

[32] Eigentlich MPEG-1 Audio Layer III, ein digitales Verfahren der Musikkodierung, welches auf psychoakustischer basierender Informationsreduktion für das menschliche Ohr qualitativ hochwertige Audiowiedergaben bei deutliche geringerem Speicherverbrauch (ca. 15% gegenüber der PCM-Kodierung) erzielt.

[33] Alle biologischen Entitäten basieren auf einer vierwertigen Kodierung auf der Grundlage von Desoxyribonukleinsäure (DNS, engl. DNA).

[34] Der Begriff des «Computervirus» wurde zu Beginn der 1970er Jahre geprägt, als Schöpfer gilt der Science-Fiction-Autor David Gerrold, der 1972 den Begriff in der Geschichte «When Harlie Was One» einführt.

Dr. Henning Gebert beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit Themen der Digitalisierung; zuerst als Doktorand an der Universität St. Gallen, danach als System- und Strategieberater und seit mehr als einer Dekade in unterschiedlichen Aufgaben beim führenden Schweizer Telekommunikationsunternehmen Swisscom. Als Leiter der strategischen Geschäftsentwicklung Banking hält er aktuell über Vorträge und Vorlesungen den Bezug zur Wissenschaft, der er sich auch als Praktiker stets verbunden fühlt.

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