Berufe der Zukunft – Die tiefgreifende Transformation der Arbeitswelt

Wie verändert sich der Arbeitsmarkt 2023? Oder: Die fetten Jahre sind vorbei.

Demografischer Wandel, künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit stellen Organisationen jeder Art insbesondere im Personalmangement vor enorme Herausforderungen. Welche Berufe werden in Zukunft noch benötigt, welche verlieren an Bedeutung? Und wie können Arbeitgeber einen zukunftsfähigen Pfad für sich definieren? Hier können die Perspektiven der Zukunftsforschung bzw. Foresight helfen.

Die Arbeitswelt erlebt eine tiefgreifende Transformation. Diese Beobachtung liest sich ohne eine lange Liste verstärkender Adjektive in Zeiten von Lieferkettenproblemen, Fachkräftemangel, Inflation, Rezession, Quiet Quitting und Masseninsolvenzen fast schon banal. Oder zynisch. Wie sollen Arbeitgeber mit der daraus resultierenden Unsicherheit umgehen, welche strategisch langfristig wichtigen Entwicklungspfade sollten zeitnah eingeschlagen werden? Lösungsansätze bietet die strategische Vorausschau bzw. Foresight.

Dieser Beitrag betrachtet in Kürze die drei wichtigsten Trends, die im Zusammenhang mit den aktuellen und bevorstehenden Veränderungen der Arbeit stehen. Anschließend gehen wir auf die Auswirkungen für Arbeitgeber ein.

Diese drei Megatrends prägen die Berufe der Zukunft

Das Problem liegt auf der Hand: Arbeitgeber finden nicht nur keine Fachkräfte mehr, sondern auch kaum Personal für weniger spezialisierte Tätigkeiten. Was in den vergangenen Jahrzehnten noch primär einzelne Branchen sowie Betriebe eher in ländlichen Regionen betraf, hat sich in wenigen Jahren zu einem Flächenbrand entwickelt. Die theoretische Arbeit mit Trends kann eine erste Orientierung bieten für die bereits eingesetzten Veränderungen.

Silver society: Rentnerboom und Langlebigkeit

Beginnen wir untechnologisch. Der demografische Wandel hat in vielen Ländern der westlichen Welt den Zenit der Arbeitsproduktivität überschritten. Die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge gehen in Rente oder Pension, es folgen geburtenschwächere Generationen, die schon rein zahlenmäßig die Lücken nicht auffüllen können. Gleichzeitig werden Menschen durchschnittlich älter und altern gesünder, wollen also tendenziell mehr erleben. Das ist fantastisch für die älteren Menschen und deren Angehörige, volkswirtschaftlich aber in Sozialstaaten eine ziemliche Katastrophe. Ob die Renten so sicher sind, wie Arbeitsminister von Blüm bis Heil versprechen, mag wohl niemand so recht zu sagen.

Klar ist, dass eine relativ schrumpfende Bevölkerungsschicht Erwerbstätiger eine relativ wachsende Bevölkerungsschicht Ruheständler bzw. deren staatliche Rente und Pension finanzieren muss. Die Rechnung geht nur auf, wenn die jüngere Mehrheit verhältnismäßig viele Abgaben in die Sozialversicherungen tätigt, dadurch also perspektivisch weniger Netto vom Brutto hat, was die Mittelschicht weiter erodieren lässt und den Generationenzusammenhalt gefährdet. Angehörige der Generation Y (etwa geboren zwischen 1980 und 1995) können sich im Schnitt kein Haus und Auto mehr leisten, die Generation Z sowieso noch nicht und von Alpha wollen wir noch nicht anfangen. Glücklicherweise wird den Generationen ab Y tendenziell eine postmaterialistische Attitüde zugeschrieben – doch auch Reisen, Sharing-Modelle und virtuelle Assets kosten Geld.

Neue Jobs in diesem Megatrend-Komplex fokussieren sich ganz klar auf die beiden Bereiche Altenpflege und AgeTech. Auf der einen Seite mangelt es an Personal für pflegebedürftige Menschen, auf der anderen Seite an sinnvoller, effizienterer Pflegeorganisation (vgl. das „Burtzoorg-Modell“, beschrieben von Frédéric Laloux). Wie AgeTech auf der anderen Seite sowohl Pflegepersonal als auch Pflegebedürftigen das Leben einfacher machen könnte, erforscht beispielsweise der relativ junge Lehrstuhl für Digital Health an der Leibniz-Hochschule Hannover; eine vollautomatisierte Waschstraße für Gepflegte könnte in wenigen Jahren Realität sein, meint Lehrstuhlleiterin Prof. Dr. Florina Speth im Podcast „Im Hier und Morgen“.

Auf der anderen Seite des Arbeitsmarkts sind tausende Existenzen von Unternehmen bedroht. Schuld ist hier nicht die Inflation oder Rezession, sondern mangelhaftes Nachfolgemanagement der Geschäftsinhaber und -führer zwischen 50 und 70 Jahren. Leider ist dies oft ein hausgemachtes Problem. Leider auch gesamtgesellschaftlich eins mit großer Sprengkraft für den gesamten deutschsprachigen Mittelstand. Vor rund zehn Jahren durfte ich in einem öffentlich geförderten Forschungsprojekt der Hochschule für Wirtschaft und Recht mitwirken, woraus unter anderem die Vernetzungsplattform „Nachfolge in Deutschland“ hervorging.

Bedeutet in Kürze: Es gab nie bessere Chancen für qualifiziertes Personal, um eine Stelle als Geschäftsführer:in zu finden, Reise- oder Umzugsbereitschaft vorausgesetzt. Umgekehrt werden unweigerlich in den kommenden Jahren viele Tausend Arbeitskräfte aus existenzbedrohten Unternehmen entlassen werden, daran geht schon jetzt kein Weg mehr vorbei.

KI und Metaverse

Künstliche Intelligenz (KI) – oder vielmehr maschinelles Lernen – und virtuelle Welten im Metaversum gehören genauer betrachtet unterschiedlichen Trendkomplexen an und doch gibt es interessante Schnittmengen. Immerhin ist das zugrundeliegende Muster beider Megatrends die fortschreitende Miniaturisierung von Transistoren in Computerchips (s. Mooresches Gesetz) bei gleichzeitigem Anstieg der verfügbaren Speicherkapazitäten vor Ort und in der Cloud. Gleichzeitig ist der Siegeszug der sogenannten sozialen Medien nicht ohne KI zu erklären, basiert doch die süchtig machende Anziehungskraft der sozialen Medien weniger auf echten Beziehungen und Befriedigungen, sondern künstlich erzeugten Filterblasen und entsprechender Werbeanzeigen, scheinbar personalisierter Angebote und Echokammern. Und hier schließt sich der Kreis zu Metaverses jeder Form: Ohne KI keine sinnvollen Angebote, keine funktionierende Payment-Architektur, keine Blockchain-Dezentralisierung bei gleichzeitigem Anreizmanagement für Konsumgüterhersteller.

Was kann KI – und was macht in Zukunft noch der Mensch?

Mittels künstlicher Intelligenz kann, Stand heute, schon eine Reihe von Tätigkeiten übernommen werden. Dass die Hiobs-Statistiken von der Substitution bis zur Hälfte aller Jobs bis 2035 ziemlicher Unsinn sind, führe ich an dieser Stelle nicht aus. Sprachmodelle wie GPT-3 (u.a. ChatGPT) können täuschend echt Konversationen führen (goodbye Turing-Test), Marketingpläne erstellen oder Codes für Websites und Videos programmieren. Bild-KIs wie Dall-E oder Dreamstudio kopieren die Stile von Künstler:innen und erzeugen massenhaft Grafiken, wie im Beispiel von dem van Gogh-Gemälde von Michael Jackson ersichtlich wird. Über Automatisierung an Produktionsstraßen und in Warenhäusern schrieb unter anderem Christopher Ganz („Von der Fabrikautomatisierung zur Geschäftsprozessautomatisierung“) ausführlich.

A dream of Michael Jackson as imagined by Vincent van Gogh
A dream of Michael Jackson as imagined by Vincent van Gogh – Screenshot from dreamstudio.ai

Die Frage ist weniger, welche Tätigkeiten durch KI in wenigen Jahren zusätzlich „automatisch“ erledigt werden können – sondern, welche nicht. Die durchschnittliche Erwartung aus der Zukunftsforschung antwortet darauf mit den Kernfähigkeiten der menschlichen Natur: Tätigkeiten, die auf der Einschätzung, Bewertung, Bildung und empathischen Kommunikation basieren sowie solche, die eine wesentlich ethisch fundierte Spontaneität erfordern.

So viel zur künstlichen Intelligenz.

Der Siegeszug des Metaverse – und neue VR-Berufe

Über das Metaverse bzw. die verschiedenen Metaverses wurde in den letzten Monaten viel geschrieben, hier und anderswo. Viele Beiträge und Kritiken basieren auf unvollständigen Annahmen über die wirtschaftlichen Interessen virtueller Welten mit einem sehr starken Fokus auf Meta, den Mutterkonzern von Facebook, Whatsapp, Instagram und (oft übersehen) Oculus. Aus Sicht der Zukunftsforschung hat sich die dritte Evolutionsstufe des Internets (Web3) mit dezentraleren Netzwerk- und Machtstrukturen lange angedeutet – dass erst eine Pandemie und die damit zusammenhängende digitale Reifung vieler Beschäftigter und Arbeitgeber im Zeitraffer passieren musste, wirkt im Nachhinein erstaunlich. Ebenso, dass erst ein mutmaßlich narzisstischer Milliardär kommen und eins – in Bezug auf die Datenmenge und -güte – der wertvollsten Social Media-Unternehmen gegen die Wand fahren muss, bevor die Monopole auf Kommunikationsströme der ganzen Welt möglicherweise auch politische Aufmerksamkeit der obersten Ebene verdienen.

Unabhängig vom aktuell sicherlich noch unvollkommenen Status der verschiedenen Metaverse-Anbieter lässt sich schon jetzt eine deutliche Tendenz erahnen: Dienstleistungen nahezu jeder Art werden in virtuellen Welten auf potente Nachfrage stoßen. Ob Finanzberatung, Immobilienmakler oder VR-Friseur, der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Auch eine VR-Bankfiliale muss geleitet werden, VR-Kundschaft beraten, VR-Personal angeworben werden. Wichtig wäre aus gesellschaftlicher Sicht, dass das Feld nicht ausschließlich wirtschaftlichen Akteuren überlassen wird, sondern sowohl Bildungssektor als auch Justiz sich eher früher als später mit konkreten Gestaltungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken befassen.

Zwischen KI und Metaverse befindet sich wiederum gigantisches Potenzial für gemischte Realitäten bzw. augmented / mixed reality (AR). Die ersten marktfähigen Anwendungen der Industrie 4.0 und Werbekonzepte in virtuellen Zwischenschichten wie einer Smartphone-Kamera oder AR-Headsets sind längst erprobt und warten auf entsprechende Plattformlogiken und deren Geschäftsmodelle – ähnlich wie damals die ersten Smartphones, vielleicht sogar mit größerem Kapitalisierungspotenzial für hiesige Firmen.

Nachhaltigkeit bzw. regenerative Volkswirtschaften

Last but not least ein paar Worte zum wichtigsten „Trend” unserer Zeit, dem Klimawandel. Die Notwendigkeit zu regenerativem Wirtschaften steht aus wissenschaftlicher Perspektive außer Frage. Interessanter ist, wie genau der Weg in eine Kreislaufwirtschaft aussehen kann, ohne den Lebensstandard der industrialisierten Volkswirtschaften zu sehr zu gefährden, denn das würde die Unterstützung der Bevölkerungen gefährden.

Unabhängig von möglicherweise ideologischen Fragestellungen ist der wirtschaftliche Kurs der kommenden Jahre relativ klar vorgezeichnet: Der Ausbau erneuerbarer Energien muss und wird boomen. Ziel einer langfristig lebensfähigen demokratisch organisierten Menschheit ist eine Kreislaufwirtschaft, die analog zum Doughnut-Modell die Schwächen des Frühkapitalismus und der jungen Digitalökonomie ausgleicht und effektivere Umverteilung ermöglicht. In der es keinen Müll mehr gibt, sondern nur Rohstoffe; keine schädlichen Emissionen, sondern geschlossene Systeme; weniger Ungerechtigkeit, denn die ist nachweislich schlecht fürs Geschäft und nur gut für wenige.

Doch wer produziert eigentlich die Millionen benötigten Photovoltaikpanels, Windkrafträder, Energiespeicher, wer verlegt neue Stromtrassen quer über Kontinente (!), wer hält die alten Anlagen instand, wer hilft Privathaushalten und Gewerbetreibenden beim Ausstieg aus fossilen Energieträgern, woher kommen all die nötigen Rohstoffe? Und was sagen eigentlich die fossile Industrie und Öl-exportierende Staaten dazu? Man kann den Bedarf an Fach- und Arbeitskräften quer durch die Wertschöpfungskette von Industrie über Handwerk bis Dienstleistungen sowie Beratung und Marketing kaum überschätzen.

Entsprechend steuern wir einerseits in eine schrittweise Massenarbeitslosigkeit infolge von Firmeninsolvenzen, während an anderer Stelle der Bedarf an Fachkräften exponentiell wächst.

Implikationen für Arbeitgeber

Weltweit mangelt es an Lehrstühlen, Bildungsträgern und Berufskammern, die das Personal von morgen in ausreichendem Umfang bilden und umschulen. Das Weltwirtschaftsforum prägte bereits 2018 den Begriff „Umschulungsrevolution“ als Teil des „Great Reset“, der nötig ist, um die Menschheit zu retten. Oder zumindest den Teil, der es sich nicht leisten kann, sich zeitnah an die bevorstehenden Klima- und Umweltextreme anzupassen, was im Übrigen die Mehrheit sein wird und nicht „nur“ den globalen Süden betrifft. Insofern sollten die Fortbildungsbudgets innerhalb von Organisationen nennenswert erhöht und öffentlich verfügbare Mittel dafür besser verteilt werden.

Nachhaltigkeits-Analyse und Zukunftsberufe

Arbeitgeber sind gut beraten, im neuen Jahr ihre Produktions- und Lieferketten konsequent dahingehend zu analysieren, welche Elemente in drei bis fünf Jahren noch mit den steigenden ESG-Standards vereinbar sein werden. Viele werden sich wundern, wie wenige übrig bleiben. Wer intern kein Personal hat, um diese Nachhaltigkeitsanalyse und -monitoring durchzuführen, wird auf dem boomenden Markt der Nachhaltigkeitsagenturen fündig. Wir reden inzwischen nicht mehr von einer kosmetischen, sondern einer überlebenswichtigen Analyse mit entsprechenden Schlussfolgerungen.

Das bestehende Personal in nicht regenerativen Abteilungen und Firmenzweigen kann mit einem einfachen Modell umgeschult werden: Die Arbeitszeit, die auf nicht ESG-konforme Tätigkeiten einzahlt, wird schrittweise erst durch Fortbildungen ersetzt, bis neue Aufgaben übernommen werden können. Dadurch sinkt nur in einer kurzen Übergangszeit die Produktivität, steigt aber dann überproportional an.

Digitales Personalmarketing als Überlebensfaktor

Wer heute noch kein Personalmarketing oder Employer Branding in geeigneten Social Media-Kanälen betreibt, findet nicht mehr ausreichend Talente. Ähnlich könnte es sich in wenigen Jahren mit dem Metaverse verhalten. Insbesondere technikaffine Menschen dürften dort eher anzutreffen sein als über Zeitungsannoncen und Plakatwerbung.

Wer nicht international nach Fachkräften sucht und Freelancer anderer Sprachen in die Suchkriterien einbezieht und folglich wichtige Stellen nicht besetzen kann, ist selbst schuld. Aktuell fehlt in zahlreichen Unternehmen geeignetes Personal für die Management-Zwischenebene – mitunter, weil das Image vieler Arbeitgeber unter der Pandemie gelitten hat, aber auch, weil ein guter Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung erkannt hat, dass das Zeitalter von Wasserfall-Hierarchien vorbei ist. Dadurch wird Personalmanagement zu einem Kraftakt, in dem viele Mechanismen grundlegend anders funktionieren als bisher. Stellenausschreibungen müssen beispielsweise weniger konkret vorgeben, was der Arbeitgeber bietet, sondern deutlich machen, dass die Potenziale des Personals gemeinsam eruiert werden, um den perfekten Fit für beide Seiten zu finden.

Das Ende der Personalabteilung

Aus organisatorischer Sicht wirkt das wie die Quadratur des Kreises. Die Organisationen, die wir kennen – typischerweise vor allem Privatunternehmen und Behörden –, funktionieren nach wie vor im Grunde wie Armeen mit entsprechender Kommunikations- und Machtverteilung. Und inzwischen meist ohne Krawatte und förmliche Anrede. Der Weg zur tatsächlich agilen Organisation mit einem Fokus auf Kompetenz und informellen Mehrwertgenerierung sowie Synergieeffekte zwischen den Individuen ist ein weiter, der mit so ziemlich allem bricht, was das Humankapital-fokussierte HR der Vergangenheit gepredigt hat. Insofern deutet sich langsam das Ende der Personalabteilung an, wie ich es im gleichnamigen, 2019 veröffentlichten Whitepaper bereits beschrieben habe.

Von „Bullshit Jobs“ zum Solopreneurial Chaos

Last but not least erwarte ich einen weiteren Anstieg der selbstständigen Beschäftigungsformen. Bis zur Hälfte der Erwerbstätigen könnte im Jahr 2030 auch Einkünfte aus selbstständiger Arbeit erzielen, um eine Finanzamt-konforme Formulierung zu wählen. Im Haupterwerb bleibt zwar ein Dienstverhältnis mit einem Arbeitgeber wichtig, doch die restlichen 20-60 Prozent der eigenen Lebenszeit beschäftigen sich diese Solopreneure mit eigenen professionalisierten Hobbies, verdienen etwas Geld und verspüren vor allem das, was in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewann: Sinn.

In den 2000er und 2010er Jahren stieg der Anteil der sogenannten Bullshit-Jobs bis auf ein Maß an, dass die Gegenbewegung, das Quiet Quitting, nicht lange auf sich warten ließ, aber viel später (oft zu spät) erst von Arbeitgebern bemerkt wurde. Bullshit Jobs bezeichnen Berufe, die in einem immer größeren Anteil ihrer Zeit im Grunde sinnlose Funktionen erfüllen, sodass das Personal sich unnütz fühlt und in der Tat vermehrt vom Boreout, dem Gegenteil zum Burnout, betroffen ist. Die Beschäftigten bedanken sich durch das Quiet Quitting, was bedeutet, dass sie nur noch die tatsächlich im Arbeitsvertrag vereinbarten Aufgaben ausführen, was in der Regel einen geringen Anteil der Arbeitszeit erfordert, und im Rest der Zeit laufen Instagram und Tiktok heiß – und/oder die Grundlagen für die eigene „nebenberufliche“ Selbstständigkeit.

Diese Entwicklung könnte in ein Chaos führen: Wenn die Fluktuation der Freelancer eine kritische Grenze überschreitet und Personalarbeit zu aufwendig (= teuer) wird, könnten Arbeitgeber schon allein angesichts des ambivalenten Personalangebots überfordert und unterbesetzt verenden. Vermittlungsplattformen wiederum stehen bereits am Anfang eines goldenen Zeitalters, weshalb auch das Berufsnetzwerk XING seinen Fokus von Events zum HR-Matching verschiebt. Die Freelancer selbst könnten unter den Herausforderungen einer ausschließlich selbstständig organisierten Berufsbiografie leiden und nach Jahrzehnten der „prekären“ Beschäftigungen nur noch schwer eine feste Stellung finden.

Für Arbeitgeber ist diese Prognose geradezu eine Kampfansage. Viele größere Firmen arbeiten naturgemäß mit Freelancern sowie den vermittelnden Agenturen oder Headhuntern zusammen. Besonders in IT-nahen Tätigkeitsbereichen gehört es bereits zum guten Ton, ganze Horden global verteilter Freelancer zu beschäftigen – was dem Geist der digitalen Globalisierung entspricht, dem Fachkräftemangel Rechnung trägt und schlicht überlebensnotwendig ist. Doch andere Bereiche werden folgen, allen voran juristische und organisationale Beratungsdienstleistungen und C-Level Advisory, gefolgt von hochspezialisierten Ingenieur-, Medizin- und Finanz-Berufen.

Fazit: Komplettumkehr und Liberalisierung

Aus Perspektive der Zukunftsforschung, also mit einem systemischen, historisch-futuristischen Blick auf Makroentwicklungen, hat sich in den letzten Jahren eine Komplettumkehr des Arbeitsmarkts ereignet. Wo vorher die Arbeitgeber am längeren Hebel saßen, sind es nun die besser denn je organisierten Beschäftigten (mit wenigen Ausnahmen, die nachziehen werden). Der durchschnittliche Bildungsstand hat sich weltweit erheblich verbessert (entgegen der Vermutung beim Lesen öffentlicher Kommentare im „social web“), wodurch die Ware Arbeitskraft an Wert gewonnen hat; oft sogar international und trotzdem vom Arbeitsort der Wahl aus.

Kurz: Der Arbeitnehmer-Nachfragemarkt hat sich diametral umgekehrt, die Auswirkungen durchdringen in den kommenden Jahren sämtliche Bereiche der Wirtschaft.

Der Begriff Liberalisierung, der jahrzehntelang entliehen wurde an den Wirtschaftsliberalismus und eine eher arbeitgeberzentrierte Lesart der Wirtschaft (Neoliberalismus), kehrt mit den aktuellen Trends zur Arbeitnehmerseite zurück. Die Beschäftigten genießen mehr Freiheiten und haben zunehmend viele Auswahlmöglichkeiten zur Gestaltung ihrer Erwerbsbiografie.

Zukunftsfähige Arbeitgeber haben sich bereits Gedanken darüber gemacht, welche Funktionsbeschreibungen und Tätigkeitsbereiche in ihrer Organisation schleichend zu Anachronismen werden – und haben klare Entwicklungspfade der Stellen definiert sowie die dazu passenden Umschulungskonzepte. Mit der Abkehr von analogen Arbeitsprozessen, wo es sinnvoll ist, und dem Ziel einer dekarbonisierten, defossilisierten Weltwirtschaft, ist es kein Wunder, dass sich Entscheidungsträger in Organisationen jeder Art in einem Tsunami der täglichen Grundsatzentscheidungen wiederfinden. Und täglich grüßt das Krisenmurmeltier.

 

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag „Die Zukunft der Arbeitswelt“ des Autors sowie dessen Herausgeberband „Arbeitswelt und KI 2030“ (Springer Gabler, 2021).

Kai Gondlach ist einer der ersten deutschen Zukunftsforscher mit staatl. anerkanntem Master-Abschluss der FU Berlin. Seine Grundausbildung (B. A. Soziologie und Politik-/ Verwaltungswissenschaft) setzte er in Großkonzernen und Unternehmensberatungen ein, bevor er sich 2019 selbstständig machte. 2021 gab er den Band "Arbeitswelt und KI 2030" (Springer Gabler) heraus. 2022 gründete er das PROFORE Institut für Zukünfte. Kai Gondlach ist gefragter Keynote Speaker, Autor und aktives Mitglied der wissenschaftlichen Zukunftsforschung.

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