«Identität in der modernen Arbeitswelt» – Erkenntnisse aus der Changetagung der FHNW vom 25./26. Januar 2018

Einsichten in die Changetagung der FHNW über die Identität der modernen Arbeitswelt

Die digitale Transformation verändert unser Verständnis von Arbeit. Anlässlich der Changetagung der FHNW Ende Januar haben zahlreiche Referentinnen und Referenten das Thema „Identität in der modernen Arbeitswelt“ aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Für Teilnehmende eine reiche Inspirationsquelle.

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Wandel, digitale Transformation, Arbeitswelt 4.0, Culture Change – dies verlangt nach neuen Konzepten und Überlegungen für Zugehörigkeit, Zusammenarbeit und Führung. An der Changetagung der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW haben sich Ende Januar über 250 Teilnehmende intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie Identität in der modernen Arbeitswelt aussieht. Das Angebot war sehr reichhaltig und so hat jeder Teilnehmer seine ganz eigene Inspiration gewinnen können – treu’ nach dem Motto von Olaf Geramanis, dem Initianten der Tagung: «Viel hilft viel». Ich habe tatsächlich zahlreiche Eindrücke gewonnen und teile gerne einige Schlüsselgedanken.

Die Sozialanthropologin Joanna Pfaff-Czarnecka macht in der Einführungskeynote[1] sogleich klar, wie wichtig Zugehörigkeit für Betriebe ist und erklärt den Begriff umfassend. Sie benennt Zugehörigkeit als ein «Austauschverhältnis zwischen Betrieben und darin arbeitenden Menschen» und spricht davon, dieses Verhältnis neu auszuhandeln.

Fazit: Es ist notwendig, sich mit diesem «menschlichen Grundbedürfnis Zugehörigkeit» intensiv auseinanderzusetzen.

 

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Zugehörigkeit, ein Grundbedürfnis / Joachim Bauer

Als zweiter Keynote-Redner nimmt der Neurowissenschaftler Joachim Bauer[2] eine andere Perspektive ein. Er macht klar, dass unsere Gene entgegen früherer Forschungsmeinungen nicht einfach einmal angelegt unveränderbar sind, sondern durch soziale Erfahrungen bespielt und verändert werden. Ein umfassendes Feld für soziale Erfahrungen bietet das Arbeitsumfeld. Arbeit als Quelle von Anerkennung, Wertschätzung, ein biologisches Bedürfnis. Ein Feld für Schaffensfreude und Kreativität. Er zeigt uns anhand von Forschungsresultaten auf, dass Wohlwollen und positive Stimmung unser neurobiologisches Motivationssystem anregen und daraufhin Botenstoffe freigesetzt werden, die unsere Leistungsfähigkeit und das seelische Wohlbefinden positiv beeinflussen. Angst, Schrecken und Drohung bewirken hingegen das Gegenteil, was empirisch unterlegt ist. Genauso wichtig das Thema «Partizipation» – echt gehört werden hat nachweislich einen positiven Einfluss auf unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Und gesunde und leistungsfähige Mitarbeitende sind unbestreitbar eine Notwendigkeit für Unternehmen. Was ihn beschäftigt sind die Auswirkungen von sogenannten Cyber-physischen Systeme (CPS), die Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Der vermehrte Einsatz von CPS führt zu einer «Entpersönlichung» und damit möglicherweise zu einem Verlust an sozialen Interaktionen. Seine Aufforderung: Denken wir nach über die Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 und gehen sie proaktiv an.

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Nachdenken über die Auswirkungen von Arbeitswelt 4.0 / Joachim Bauer

Nun folgt der emeritierte Professor für Soziologie, Kurt Lüscher [3] zum Thema Ambivalenz – salopp gesagt das Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen zwei Polen. Ein wissenschaftlicher Text, ich merke, meine Aufmerksamkeit ist nur noch sehr punktuell auf dem Gehörten. Was haften bleibt ist die Aussage, dass nicht Ambivalenz per se krank macht, aber die Unfähigkeit, damit umzugehen. Ein Handlungsansatz: Ambivalenzen thematisieren.

Wir wechseln in den Workshop-Modus. Wobei, als Workshop behandeln wir das Thema «Die lernende Organisation – reloaded» nicht, der Diskussionsspielraum geht verloren. Es geht um Fehlerkultur. Als Reminder: Der Umgang mit Fehlern fängt bei unserem eigenen Umgang damit an. Verbinden wir mit Fehlern eher negative Gefühle wie Scham und Ärger oder versuchen wir, Lernfelder darin zu sehen? Zwar nichts Neues, aber ein Refresher schadet ja auch nicht.

 

Interessant wird’s wieder im nächsten Panel mit Katrin Glatzel [4] und Guido Becke. Erstere befasst sich mit der Zugehörigkeitsfrage im Startup-Umfeld und wagt die These: «Meine Heimat ist das Produkt». Zugehörigkeit in Startups bezieht sich stark auf das Produkt, auf die Menschen und auf die Firmenkultur und ist ausgeprägt spürbar. Der Unternehmergeist schweisst zusammen. Wir stellen Parallelen fest zwischen den früheren starken Zugehörigkeitstendenzen bei traditionellen Unternehmen – Beispiel «Siemensianer» oder «Pöstler» und fragen uns, ob bei Startups die gleiche Tendenz spürbar ist, einfach in einer agileren Welt. Die Referentin nimmt die Frage mit. Etwas pessimistischer klingt der zweite Redner Guido Becke[5]. Er kommt unter anderem auf Crowdsourcing zu sprechen und warnt vor der zunehmenden Entbetrieblichung, die zu prekären Lebensverhältnissen und sozialer Desintegration führen kann. Gewerkschaften sind herausgefordert, diese Themenfelder zu belegen und zu bearbeiten.

 

Zum Schluss des ersten Tages noch einmal eine ganz andere Sicht auf Zugehörigkeit, nämlich diejenige von Paul Mecheril, einem Professor für Bildung und Migration. Wir leben im Zeitalter des Ungleichgewichts, und das wesentliche Merkmal für die persönlichen Zukunftsaussichten ist der Ort der Geburt. Er spricht auf sehr eindringliche Art und Weise von den Bildern der Migration, die wir vor unserer Haustür selber wahrnehmen und die eben anderes auslösen als Bilder, die wir in Medien sehen. Er erinnert uns daran, dass wir in Europa eine imperiale Lebensweise führen, weltpolitisch sind wir eine Minorität, die auf Kosten anderer lebt. Dieses Ungleichgewicht kennen wir, mit der Migration wird es sichtbar, es macht Angst. Wir stecken in einem Dilemma, es gibt keine einfachen Antworten darauf. Er betont, wie wichtig Bildung ist. Anstatt in der bestehenden Zugehörigkeit zu verhaften lohnt es sich, davon auch Abstand nehmen zu können. Seine Überlegungen teilt er mit uns, ohne dabei moralisierend oder belehrend zu wirken, rhetorisch sehr authentisch, präzis. Ein ganz besonderes Highlight der Tagung.

 

Der Gang ins «Les Trois Rois» für den Netzwerkabend wirkt nach diesem intensiven Referat im ersten Moment etwas irritierend. Wie war das mit dem gelebten Imperialismus?

 

Der zweite Tagungstag startet mit Richard Barrett, der uns sein Tool für werteorientierte Führung anpreist. Werte, wie wir sie auch aus «Reinventing Organizations» von Frédéric Laloux kennen. Er verweist auf all seine Bücher, die er geschrieben hat. Im Saal scheint sich nach der anfänglichen Begeisterung über einen charismatischen Redner etwas Ernüchterung breit zu machen, in einer Verkaufsveranstaltung gelandet zu sein. Sein Instrument, das Cultural Transformation Tool, wirkt durchaus einleuchtend. Einmal mehr wird mir bewusst: Durch die fortlaufende Messung der Change-Fortschritte im Sinne von KPI’s bleibt der Fokus auf dem Kulturprozess. KPI’s als eine Sprache, die Manager verstehen. Leider erfahren wir nichts über die Massnahmen, die Stolpersteine, die Rückschläge. Zuviel Hochglanz.

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Kulturmodell von Richard Barrett

Langsam erreiche ich die Sättigungsgrenze an Eindrücken. Der sehr wissenschaftlich vorgetragene Beitrag von Stephanie Porschen-Hueck[6] über Grenzmanagement in Netzwerken zeigt an einem konkreten Beispiel Herausforderungen in offenen Organisationen. Meine Aufmerksamkeit driftet etwas ab. Aber soviel nehme ich mit: Netzwerke brauchen eine gemeinsame Vision, um erfolgreich zu funktionieren.

Wieder ein Moduswechsel, es geht ins Panel. Leider sind Antoinette Weibel[7] und Peter Kels krankheitshalber ausgefallen. Sehr schade, denn ich habe ihre Artikel bereits im Vorfeld gelesen. In Erinnerung bleibt mir die Aussage von Vertrauensforscherin Antoinette Weibel: Die Unternehmen wissen um die Herausforderung der digitalen Transformation. Doch mit der Umsetzung hapert es. Wir fahren mit angezogener Handbremse. Hier hätte ich gerne mehr über die vermuteten Ursachen geforscht.

Stattdessen lerne ich etwas über das Engagement von hybriden Professionals im Vortrag von Jens O. Meissner[8]. Zur Klärung: Dabei handelt es sich um hochqualifizierte Portfolioarbeiter, die bewusst die Synergien zwischen den verschiedenen Organisationssystemen nutzen und dabei sowohl in den Systemen wie ausserhalb arbeiten. Sie nehmen für das Verfolgen ihrer Ziele ein hohes Arbeitspensum in Kauf – Stichwort Selbstgefährdung. Fazit des Referenten in einem Satz: Hybride Professionals fühlen sich da beheimatet, wo sie bei freier Zeitgestaltung, an selbst gewählten Orten herausfordernde Aufgaben bewältigen und sich einer interdisziplinären, vertrauensvollen Gemeinschaft zurechnen können, um sich ständig weiter entwickeln zu können. An dieses Thema dockt der schriftliche Beitrag des krankheitshalber ausgefallenen Peter Kels[9] an, der über die psychologischen Vertragserwartungen von Knowledge Worker geforscht hat. Das Fazit aus dieser Arbeit: Wissensarbeiter können nur an Unternehmen gebunden werden, wenn eine Führungsbeziehung potenzialorientiert, wertschätzend und auf Augenhöhe geschieht, im Wissen um die individuellen Bedürfnisse. Eine zunehmende Herausforderung für HR, mit Diversität umzugehen. One-size-fits-all ist definitiv passé.

 

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Zentrale Faktoren für Hybride Professionals, Jens O. Meissner

 

Kirsten Brühl[10], die im Panel Jens Meissner folgt, spricht darüber, dass Organisationen mehr Wir-Kultur brauchen. Durch die hohe Vernetzung nimmt der Grad an Instabilität und Unvorhersehbarkeit weiter zu. Um als Unternehmung in diesem Zeitalter zu bestehen, ist eine Vernetzung ausserhalb wie innerhalb der eigenen Organisation zwingend. Sie bezieht sich dabei auf den Kybernetiker W. Ross Ashby und Ashby’s Law. Jedoch ist in jedem Unternehmen zu diskutieren und abzuwägen, wie gross das Ausmass an Vernetzung sein soll, einmal mehr wird bestätigt: Es gibt keine Standardlösung. Sie betont, dass nur mit der Einführung von Tools im Unternehmen noch gar nichts passiert und verweist auf die Notwendigkeit einer kulturellen Entwicklung hin zu mehr Kollaboration und horizontaler Hierarchie. Bei dieser Transformation sind eine gewisse Destabilisierung und Leistungseinbrüche unumgänglich, sie erinnert an die Forschung von Peter Kruse. Schliesslich richtet sie einen Appell an Berater. Die immer noch gängige Praxis, mit der Standardlösung auf Biegen und Brechen und von aussen «agile Organisationen» gestalten zu wollen, ist nicht zielführend. Viel wichtiger sind konkrete einzelne Schritte, angepasst auf die Zielsetzung einer Unternehmung, echt und authentisch umgesetzt und verankert. Die Frau spricht mir aus dem Herzen.

Noch einmal ein letzter Szenenwechsel. Workshopsession, wir setzen uns in einer kleinen Runde zu sechst auseinander mit der ganz konkreten Fragestellung nach Spannungsfeldern in der Freiwilligenarbeit. Wir alle verbinden einiges an Themen, die wir in den Tagen zuvor gehört haben. Die Kleingruppe ist nach der Intensität in den grossen Gruppen der letzten eineinhalb Tage geradezu wohltuend. In dieser Kleingruppe bleibe ich dann auch hängen, und verpasse – leider – den essayistischen Ausklang[11]. Ich kann auch hier etwas dazu nachlesen im Buch zur Tagung. Jetzt, wo meine Gedanken etwas geordnet sind.

Buch zur Tagung: O. Geramanis, S. Hutmacher (Hrsg.), Identität in der modernen Arbeitswelt, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018, in den Fussnoten jeweils der Hinweis auf die entsprechenden Beiträge

Quellenverweise:

[1] «Zugehörigkeit neu denken. Herausforderungen der Arbeitswelt von heute und morgen», Joanna Pfaff-Czarnecka, S. 3-19
[2] „Zugehörigkeit und Gesundheit am Arbeitsplatz aus neurowissenschaftlicher Sicht», Joachim Bauer, S. 259 – 265
[3] «Ambivalenz des Organisierens und des Führens – Vorschlag einer Heuristik», Kurt Lüscher, S. 33-48
[4] „Identität und Zugehörigkeitsmechanismen in Start-ups: Product-People-Passion-Culture», Katrin Glatzel und Tania Leckweg, S. 85 – 98
[5] „Soziale Zugehörigkeit – eine fragile organisationale Ressource bei digitaler und vermarktlichter Arbeit», Guido Becke, S. 267 – 281
[6] „Dynamisches Grenzmanagement in Offenen Organisationen», Stephanie Porschen-Hueck, Margit Weihrich und Norbert Huchler, S. 235 – 257
[7] „Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Topmanager im Spannungsfeld organisationalen Wandels», Meike Wiemann, Antoinette Weibel und Linda Zolliker, S. 161-17
[8] „Home Sweet Home: Das Heimatverständnis hybrider Prfessionals», Jens O. Meissner, S. 113-130
[9] „Psychologische Vertragserwartungen von Knowledge Workers im Zeitalter flexibler Karrieren», Peter Kels, S. 131-145.
[10] „Organisationen der Zukunft: Warum wir mehr Wir-Kultur brauchen», Kirsten Brühl, S. 147 – 158
[11] Ein Essay zum Anfang – Spinne und Netz – Verbindung und Verbindlichkeit, Netzwerk und Verflechtung, Alain Claude Sulzer

Change-Umsetzerin. Sie regt ihre Kunden ganz konkret zum Handeln an und setzt dabei auf das Potenzial innerhalb der Organisationen. Sie probiert selber immer wieder Neues aus und will die Lust am Experimentieren weitergeben. Begleitet Organisationen mit innovativen und kreativen Ansätzen auf dem Weg in die Arbeitswelt 4.0. Solider Background als Betriebsökonomin FH, MAS Psychosoziales Management, Weiterbildung und Dozentin in Projekt- und Changemanagement, HCD-Anwenderin, Holacracy Practitioner, aktuell am CAS Psychologie Arbeitswelt 4.0. www.trans4m.ch

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