Digitalisierung im Einkauf – Wo stehen wir?

Welche Auswirkung die Digitalisierung im Einkauf hat

In einer Welt voller Buzzwords ist es wichtig, mit etwas Struktur Hype und Realität voneinander zu trennen und einen praktisch nutzbaren Weg in die Modernisierung des Einkaufs darzulegen.

Was ist Einkauf?

Für viele Menschen ist der Einkauf immer noch ein etwas angestaubter Unternehmensbereich, der ohne Rücksicht auf Qualität oder persönliche Befindlichkeiten erbarmungslos die Preise drückt. In der Realität ist der Einkauf heute ein integraler Bestandteil im Produktentstehungs- und Produktionsprozess und in der Wertschöpfungskette der meisten Unternehmen. Mehr als je zuvor wird heute in OEM-Liefernetzwerken zusammengearbeitet, um schnell innovative Produkte und Dienstleistungen auf den Markt bringen zu können. Deshalb braucht es jemanden, der diese Lieferantennetzwerke aufbauen, steuern, pflegen und profitabel machen kann. Das ist der Einkauf.

Bevor wir über Trends und Möglichkeiten in der Digitalisierung des Einkaufs sprechen können, müssen wir den Einkauf aber noch etwas genauer betrachten. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen direktem und indirektem Einkauf.

In die direkte Kategorie fallen alle Waren oder Dienstleistungen, die direkt in das Endprodukt einfliessen. So beispielsweise Rohstoffe, Vor- und Teilprodukte und Werkzeuge. Der direkte Einkauf ist natürlich für Produktionsunternehmen von entscheidender Wichtigkeit – nicht nur, weil über die Einkaufspreise dieser Produkte die Gewinnmarge des Endprodukts direkt beeinflusst werden kann. Tatsächlich geht es hier auch um die Qualität und Mengen der zugekauften Produkte, wodurch indirekt die Kundenzufriedenheit erhöht, Garantiequoten reduziert, Lagerkosten oder Lieferengpässe vermieden werden können.

Als indirekte Materialien wird alles bezeichnet, was für den Betrieb des Unternehmens gebraucht, aber nicht im Endprodukt verarbeitet wird. Dazu zählen beispielsweise Tische, Stühle, Marketing, Versicherungen, Logistik, Personalsuche, Facility Management, After Sales Dienstleistungen, IT und Telekommunikation und viele andere Dinge.

Beiden Kategorien gemein ist, dass aus Prozess-Sicht eine frühzeitige Einbindung des Einkaufs und eine vertrauensvolle langfristige Zusammenarbeit mit dem Fachbereich der entscheidende Schlüssel zum Erfolg ist. In der Vergangenheit wurde der Einkauf gerne als letzte Instanz vor dem Erteilen des Auftrags eingeschaltet. Das ist so, als würde man Matlock nur zum Schlussplädoyer einladen. Es ist möglich, aber meistens nicht sehr zielführend.

Es ist auch für beide Kategorien gleichermaßen wichtig, dass die Geschäftsvorgänge vollständig dokumentiert werden. Es geht hier immerhin um Bestellungen, um steuerliche Verpflichtungen und viel Geld. Jedes Unternehmen, das Rechnungen in digitaler Form akzeptiert ist gesetzlich dazu verpflichtet, im Beschaffungsprozess Transparenz und Revisionssicherheit herzustellen (Art. 957a OR, Link). Hierbei helfen digitale Werkzeuge ungemein.

Hier möchte ich gerne einschieben, dass nach meiner Erfahrung der Grad der Digitalisierung im Einkauf völlig unabhängig von der Größe und dem Renommee des Unternehmens ist. Es gibt viele sehr bekannte Firmen, die hier noch mit Werkzeugen des letzten Jahrtausends arbeiten und erst langsam merken, dass sie Wettbewerbsnachteile reduzieren, wenn sie modernere Methoden zulassen.

Trends und Wahrheiten

Wenn man sich auf einschlägigen Portalen und Webseiten umsieht, bekommt man den Eindruck, dass demnächst der gesamte Einkauf nur noch von Künstlicher Intelligenz erledigt wird. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass AI im Einkauf der wichtigste Trend sei. Allerdings arbeitet über die Hälfte der Unternehmen mit über 200 Mitarbeitenden noch nicht einmal durchgängig mit digitalen Werkzeugen wie eSourcing und eProcurement. Wunsch und Wahrheit scheinen hier nicht ganz beieinander zu sein.

Einkauf ist etwas, das stark auf zwischenmenschliche Interaktion setzt. Es geht ums Verhandeln, es geht um das Herstellen einer Win-Win-Situation, es geht um Kreativität, es geht darum einen geeigneten Partner für das Unternehmen oder Projekt zu finden. Hierbei werden uns Maschinen zwar unterstützen, aber auf lange Sicht nicht ablösen können.

Allerdings gibt es eine Vielzahl von Bereichen im Einkauf, in denen Automatisierung und sogar Machine Learning sehr zielgerichtet eingesetzt werden kann. Hier einige Beispiele:

  • Im direkten Einkauf müssen Teile oder Rohstoffe passend zum Produktabsatz beschafft werden. Wenn zu wenig eingekauft wird, droht ein Produktionsstillstand. Zusätzlich muss aber auch – insbesondere bei Rohstoffen – die Entwicklung der Marktpreise berücksichtigt werden, denn so kann die Marge deutlich gesteigert werden. Allerdings müssen hierbei Absatzzyklen, Lager- und Refinanzierungskosten und eine Vielzahl externer Faktoren berücksichtigt werden. Wie man sieht, ist es eine extrem komplexe Gleichung, die kontinuierlich neu berechnet werden muss, um zum exakt richtigen Zeitpunkt die exakt richtige Menge einkaufen zu können. Hier kommt man ohne intelligente und lernfähige Systeme fast gar nicht mehr aus.
  • Im operativen Einkauf, der die Bestellungen, Bestelländerungen, Wareneingänge und Rechnungen verwaltet, werden automatisierte Abgleiche verwendet, um die grossen Volumen bewältigen zu können. Bei 15‘000 Bestelllungen, die ein Unternehmen im Jahr versendet, braucht es gute Algorithmen, um verdächtige Bestellungen zu identifizieren und manuell zu prüfen.
  • Ein mittelgrosses Unternehmen verarbeitet pro Jahr gut 25’000 Eingangsrechnungen, teilweise deutlich mehr. Hier wird Automatisierung genutzt, um Bestellung, Wareneingang und Rechnung automatisch abzugleichen und passende Rechnungen direkt zur Zahlung an die Buchhaltung weiter zu geben, ohne manuelle Intervention.
  • Im indirekten Einkauf liegt der Fokus auf Prozesseffizienz und Automatisierung von Routinearbeit. Ein strategischer Einkäufer soll sich darauf konzentrieren können, mit Lieferanten zu verhandeln, Beziehungen zu pflegen und bestmögliche Vertragskonditionen für das Unternehmen herauszuholen. Je mehr Routinearbeit durch Automatisierung erledigt werden kann, umso besser kann der Einkäufer sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren. Das hat aber nichts mit AI zu tun.

Das Fundament

Digitalisierung im Einkauf ist wichtig, da sie nicht-produktive Aufgaben automatisiert oder beschleunigt. Da auch der Einkauf sich mehr und mehr die Frage nach Kosten und Nutzen gefallen lassen muss, ist es ein essenzieller Schritt für erfolgreiche Einkaufsleiter. Außerdem ist nur mit digitalen Werkzeugen das heute geforderte Niveau an Geschäftsprozess-Dokumentation sicherzustellen.

Also setzen wir dort an. Erster Schritt der Digitalisierung ist eine effiziente Plattform für Beschaffungen (eProcurement) und Ausschreibungen (eSourcing) zu schaffen. Dies ist insbesondere für mittelständische Unternehmen ziemlich leicht umzusetzen. Es gibt eine Reihe von Cloud-basierten Werkzeugen für diese Aufgaben, die schnell und kostengünstig einzuführen sind. Ein weiterer Vorteil ist, dass viele Lieferanten für Standardprodukte bereits eine Anbindung an die Katalogsysteme in diesen Tools umgesetzt haben, beispielsweise für Büromaterial.
Eine solche eProcurement-Lösung kann gänzlich ohne ein ERP-System eingesetzt, oder über Schnittstellen an eine Vielzahl unterschiedlicher ERP-Systeme angebunden werden. Die meisten Systeme bringen heute Smartphone-Apps mit, über die Bestellungen angelegt, der Bestellstatus geprüft und Freigaben mobil erteilt werden können.

Mit einem eProcurement-System werden folgende Dinge sichergestellt:

  • Mehrstufige Freigabe
  • Revisionssichere Dokumentation der Freigabe und Beschaffung
  • Nachvollziehbarkeit der Bestellungen
  • Ermitteln und Nachverfolgen von Mindermengen
  • Zuordnung von eingegangenen Rechnungen zu versendeten Bestellungen
  • Sicherstellung eines grundsätzlichen vertraglichen Rahmens
  • Transparenz über die Beschaffungen, finanzielles Volumen, Abgrenzungen

Ein eSourcing-System setzt davor an und dokumentiert den Auswahlprozess für Anbieter. Es dient als gemeinsame Plattform, auf der mehrere interne Stakeholder gemeinsam ihre Bedarfe strukturiert formulieren und eine beliebige Anzahl von möglichen Anbietern verteilen können. Wenn es gut umgesetzt ist, können die Anbieter ihre Angebote so eingeben, dass sie automatisch miteinander verglichen, mit weiteren (qualitativen) Faktoren ergänzt und zu einer Favoritenliste zusammengestellt werden können. Der Einkäufer braucht sich dann nur um diese Favoriten im Detail zu kümmern, während die anderen Anbieter automatisiert eine Absage bekommen.

Wenn ein RfQ einmal im eSourcing System angelegt ist, kann er jederzeit wiederholt werden. So kommen Unternehmen mit wenig Aufwand dazu, Leistungen auch regelmässig neu auszuschreiben, um von aktuellsten Marktpreisen profitieren zu können.

Aus Daten lernen

Wenn diese Basis im Unternehmen etabliert ist, werden die Daten der Bestellungen strukturiert erfasst und können regelmässig ausgewertet werden. Ohne eine solche Auswertung kann der Einkauf nur passiv darauf warten, dass jemand im Unternehmen nach Unterstützung fragt. Mit den Informationen – Experten sprechen von einem „Spend Cube“ – kann der Einkauf aktiv nach Bereichen oder Lieferanten suchen, bei denen sich Verhandlungen lohnen.

Wir haben damit das Thema Digitalisierung im Einkauf nur angeschnitten. Weitere Artikel hierzu werden demnächst auf www.morethandigital.info veröffentlicht.

Tino Lichtenberg ist spezialisiert auf Projekte und Transformationen im Supply Chain Umfeld, insbesondere in der Modernisierung und Digitalisierung von Beschaffungsprozessen. Zu seinen Kunden zählen neben namenhaften Grossunternehmen auch Private Equities und ihre Portfolio-Unternehmen. Zuvor war Tino Einkaufsleiter beim grössten privaten Telekommunikationsunternehmen der Schweiz und hat auch hier erfolgreich den Einkauf optimiert und digitalisiert.

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