Hybrides Arbeiten: Auf dem Weg in die Zwei-Klassen-Organisation?

Wie Verantwortliche mit Proximity Bias umgehen sollten

Im Zuge der Corona-Pandemie wird nun gerne das hybride Arbeiten angepriesen. Auf den ersten Blick macht es viel Sinn, die Arbeit sinnvoll zwischen Präsenz im Büro und Remote im Homeoffice aufzuteilen. Doch vielen Managern ist nicht klar, dass diese Form von NEW WORK eine große Gefahr in sich birgt: Sie fördern auf Dauer eine Zweiklassenorganisation.
In diesem Beitrag beschreibe ich einerseits das Warum und die Gefahren und zeige andererseits, wie wir hybride Organisationen sinnvoll aufbauen und uns der Fallstricke bewusst werden können.

Willkommen in der neuen Normalität! Im Jahr zwei der weltweiten Pandemie hat sich das Home-Office endgültig im Unternehmensalltag etabliert. Und auch nach der Corona-Krise wollen Unternehmen neue Arbeitsmodelle nutzen und das Beste aus Home-Office und Firma kombinieren: Hybrides Arbeiten liegt im Trend. So gaben in der globalen Accenture-Studie „Future of Work: productive anywhere“ 83 Prozent der Befragten an, ein hybrides Arbeitsmodell wäre für sie optimal. Den hybriden Ansatz verfolgen auch hierzulande immer mehr Unternehmen, sofern es die Tätigkeit zulässt – Deutsche Bank, SAP, Allianz, Henkel, BASF, Daimler, BMW und viele mehr. Allerdings birgt hybrides Arbeiten auch Gefahren: Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den Mitarbeitenden. Führungskräfte entwickeln unterbewusst sogenannte Proximity Bias. Woran liegt das? Und was können Unternehmen dagegen tun?

Privilegiert oder Outsider?

Der Begriff „Proximity Bias“ (en: proximity = Nähe, bias = Befangenheit) beschreibt ein kognitives Phänomen, bei dem Führungskräfte die Mitarbeitenden vor Ort als produktiver, motivierter, zuverlässiger und ehrgeiziger wahrnehmen als die Kollegen im Home-Office. Das führt unbewusst zu einer ungerechten Bevorzugung derjenigen, die im Büro arbeiten – sichtbar in Aufstiegschancen, Aufgabenverteilungen und Gehalt. Proximity Bias gab es in kleinerer Form schon vor der Pandemie. Vor allem in hybriden Meetings existierte eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft:

Am Konferenztisch vor Ort die „Privilegierten“, die in der Gruppe viel klarer soziales Feedback wahrnehmen und sich besser an Diskussionen beteiligen konnten. Auf der anderen Seite, online zugeschaltet, die „Outsider“, die mehr passiv als aktiv den Diskussionen und Brainstormings beiwohnen konnten – und aufgrund eines verzerrten Sounds oder wackeligen Bilds nicht sehr überzeugend herüberkamen. Auch wenn sich in den letzten 18 Monaten die Anzahl der Online-Meeting-Tools vermehrfacht hat und auch das Bild- und Ton-Equipment im Home-Office professioneller geworden ist, haftet in hybriden Meetings oftmals noch der Geschmack der Ungleichheit zwischen den Beteiligten.

Der Begriff „Proximity Bias“ beschreibt ein kognitives Phänomen, bei dem Führungskräfte die Mitarbeitenden vor Ort als produktiver, motivierter, zuverlässiger und ehrgeiziger wahrnehmen als die Kollegen im Home-Office. Das führt unbewusst zu einer ungerechten Bevorzugung derjenigen, die im Büro arbeiten – sichtbar in Aufstiegschancen, Aufgabenverteilungen und Gehalt.

Die Gefahr der Chancen-Ungleichheit

Nun also auch beim hybriden Arbeiten. Das ist gefährlich, denn das Arbeitsmodell einer Organisation hat eine wesentlich größere Tragweite als ein Meeting mit zugeschalteten „Home-Office-Helden“. Wenn Führungskräfte zunehmend unbewusst die Menschen in ihrer physischen Umgebung bevorzugen, schlagen sie einen Keil in die Unternehmenskultur und kreieren Chancen-Ungleichheit. Nehmen wir ein hybrides Modell als Beispiel, bei der Mitarbeitende selbst entscheiden können, wie viel Tage sie vor Ort oder zuhause arbeiten möchten. Das klingt zunächst sehr positiv, doch:

Wer weit vom Arbeitsplatz entfernt wohnt, Kinder oder eine pflegebedürftige Person im Haus hat, wählt wahrscheinlich drei Tage Home-Office, um sich die Pendelzeit zu sparen und dafür mehr Zeit für die familiären Aufgaben zu haben. Andere entscheiden sich, jeden Tag die Woche ins Büro zu kommen und nur gelegentlich mobil zu arbeiten. Sie sind im Vorteil, denn die Führungskraft nimmt sie stärker wahr und setzt sie unbewusst auf die mentale Shortlist für Aufstiegskandidaten im Unternehmen. Falsch etabliert, kann das hybride Arbeitsmodell also mittel- bis langfristig die Ungleichheit nähren – auch wenn die Intention dahinter anders gemeint war.

Büros abschaffen?

Das bedeutet nicht, dass hybride Arbeitsmodelle negativ für Unternehmen sind. Im Gegenteil: Dieser Ansatz sichert bei unvorhersehbaren Krisen die Produktivität, ermöglicht das Weiterführen des operativen Tagesgeschäfts – und stärkt somit die Resilienz einer Organisation. Allerdings sollten Verantwortliche die Umsetzung eines hybriden Arbeitsmodells richtig planen – und die Gefahr der Proximity Bias beachten. Darren Murph, Leiter Fernarbeit des Softwareanbieters GitLab, schlägt in einem Interview mit dem Technologie-Magazin Protocol vor, Büros ganz abzuschaffen, um Proximity Bias zu verhindern. Dieser Ansatz ist radikal und führt voraussichtlich mit der Zeit zu einem Unternehmenskultursterben und einem Verblassen der Markenidentität. Das Wir-Gefühl geht verloren und der Informationsfluss stockt, da eines der größten Informationsmedien in Unternehmen – der Flurfunk – verschwindet.

Nein: Ein Unternehmen als soziales Konstrukt benötigt die physische Zusammenkunft von Menschen. Für meine Arbeit als Interim Manager ist es essenziell, Menschen um mich herum zu haben. Ich baue u.a. in Startups die Vertriebsabteilungen mit auf: In so einem Umfeld muss ich die Mitarbeitenden per Zuruf an Themen beteiligen und Rückfragen direkt beantworten können. Geschwindigkeit ist hier der Schlüssel. Zoom- oder Skype-Absprachen dauern dafür viel zu lange. Ein Arbeitsmodell, das uneingeschränkt mobil ist, kann Prozesse auch verlangsamen und ineffizienter machen.

Ein Unternehmen als soziales Konstrukt benötigt die physische Zusammenkunft von Menschen. Für meine Arbeit als Interim Manager ist es essenziell, Menschen um mich herum zu haben.

Führungsteams befähigen

Sinnvoller ist es, die Führungsteams auf die neue Situation einzustellen. Eine hybride Organisation muss anders geführt werden als eine nur analoge oder nur digitale Organisation. Wenn das allen Verantwortlichen klar ist, können sie eine Struktur schaffen, die tatsächlich das Beste aus zwei Welten miteinander verbindet, ohne in ungleiche Silos, in die A-Mannschaft und die B-Mannschaft, zu zerfallen.

Folgende fünf Schritte könnten ein erster Ansatz dafür sein:

  1. Ein Bewusstsein für Proximity Bias in den Führungsteams schaffen
  2. Gleiche Entwicklungschancen für alle aufsetzen
  3. Das Team-Building stärken
  4. Einen ergebnisorientierten Workflow etablieren
  5. Ein Regelwerk für hybride Meetings festlegen
Wie kann Proximity Bias vermieden werden
Wie kann Proximity Bias vermieden werden? – Quelle: Eigene Illustration

1. Ein Bewusstsein in den Führungsteams schaffen

Natürlich ist jede Führungskraft bemüht, frei von Vorurteilen professionelle Entscheidungen zu treffen. Mit Blick auf den Arbeitskontext ist das nicht nur wünschenswert, sondern gesetzlich vorgeschrieben: Wer das Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), auch „Antidiskriminierungsgesetz“, missachtet, hat mit entsprechenden Konsequenzen zu rechnen. Proximity Bias werden von den Führungskräften aber nicht bewusst wahrgenommen. Und das macht die Sache so gefährlich. Darum sollten ist der erste Schritt, ein Bewusstsein bei den Führungsteams für die Thematik der Proximity Bias zu schaffen. Ob im Rahmen eines Trainingsprogramms, Workshops oder einer Informationsveranstaltung: Nur wenn dieses Bewusstsein da ist, sind Führungskräfte in der Lage, zu erkennen, wann sie gerade jemanden unbewusst bevorzugen. Sie können ihr Verhalten reflektieren und in einer nächsten ähnlichen Situation anders handeln. Damit bewahren sie die Balance und die Gerechtigkeit im Team.

Doch auch die Mitarbeitenden sollten mit der Thematik sensibilisiert werden und sich klarmachen: Der „coole Job“ aus dem Home-Office kann auch seine Probleme mit sich bringen. Wer zu 100 Prozent remote arbeitet, kann leichter von den Vorgesetzten übersehen und unwillentlich übergangen werden. Einigen Arbeitnehmern ist das auch schon bewusst: Einer Umfrage von CNBC und SurveyMonkey zufolge fürchten 52 Prozent der Befragten dass die Kolleg*innen in der Firma in Zukunft bessere Karrierechancen haben werden als die aus dem Home-Office.

2. Gleiche Entwicklungschancen für alle aufsetzen

Mitarbeitende wollen sich weiterentwickeln. Aufgabe der Führungskräfte ist es, die unterschiedlichen Potenziale ihrer Mitarbeitenden zu erkennen, zu fördern und fordern. Bei hybriden Arbeitsmodellen ist das eine Herausforderung. Die Proximity Bias spielen auch hier mit hinein: Es ist wesentlich einfacher, diejenigen Leute zu fördern und zu fordern, die nahe bei mir als Führungskraft sind. Um auch die Potenziale der mobilen Mitarbeiter zu erkennen, ist ein intensiver Austausch mit ihnen notwendig. Führungskräfte sollten in hoher Regelmäßigkeit hybride Meetings aufsetzen, in der sie alle Beteiligten miteinander arbeiten lassen – und auch hybride Projektteams zusammenstellen. Außerdem sind digitale Einzelgespräche wichtig, um zu sehen, wie die Menschen mit den Aufgaben und Zeitvorgaben aus dem Home-Office umgehen. So gewinnen Führungskräfte ein Gesamtbild ihrer Mitarbeitenden, können die individuellen Potenziale abbilden und dann gezielt jede einzelne Person fördern – egal von wo aus sie arbeitet.

3. Das Team-Building stärken

Wer seine Kolleg*innen nur über den Bildschirm sieht, entwickelt neben der physischen Distanz auch zunehmend eine soziale Distanz. In einem hybriden Arbeitsmodell sollten Verantwortliche versuchen, diese Distanz zu überbrücken, in dem sie das Wir-Gefühl der analogen und digitalen Mitarbeitenden stärken. Wenn alle als eingeschworene Gruppe einem Ziel entgegenarbeiten, ist die Motivation und die Effizienz im Team wesentlich höher, als wenn jeder als „einsamer Wolf“ agiert – und viele Kolleg*innen nicht einmal sieht. Es ist hilfreich für die Identifikation mit dem Team und dem Unternehmen, wenn die Kolleg*innen regelmäßig physisch zusammentreffen. Ob im lockeren Arbeitskontext oder als Aktivität außerhalb der Arbeit: Austausch im direkten Kontakt stärkt das soziale Band der Gruppe.

4. Einen ergebnisorientierten Workflow aufsetzen

Führungskräfte können Proximity Bias umgehen, indem sie stärker projekt- und ergebnisorientiert bewerten. Es sollte egal sein, wer von wo aus an einer Aufgabe arbeitet, solange die Deadlines eingehalten und die Ziele erreicht werden. Wer sich am Ergebnis orientiert, erkennt schnell, wer die High-Performer sind – und kann die physische Nähe oder Distanz zum Team dabei ausblenden.

5. Ein Regelwerk für hybride Meetings aufsetzen

Zuletzt gilt es, die Zwei-Klassen-Gesellschaft der „Privilegierten“ und „Outsider“ in hybriden Meetings zu vermeiden. Wenn die mobil zugeschalteten Mitarbeitenden auf ihrem Bildschirm eine Gruppe an einem Konferenztisch sehen, kann sich das psychologisch ein wenig so anfühlen wie „alle gegen mich“.  Ein Ansatz, um diesen Effekt zu umgehen ist, dass alle präsent anwesenden sich ebenfalls mit ihren Laptops in die Online-Meeting-Plattform einwählen, sodass zumindest am Bildschirm alle gleich sind.

Wer sich im Voraus Gedanken zur neuen hybriden Struktur macht, kann seine Organisation resilienter und effizienter aufstellen.

Fazit: Stolperfallen beachten

Hybrides Arbeiten bringt in der neuen Normalität einige Vorteile mit sich. Allerdings verändert dieses Arbeitsmodell auch die Form der Zusammenarbeit und Interaktion im Unternehmen. Falsch implementiert, kann das die Unternehmenskultur nachhaltig schädigen. Wer sich aber im Voraus ein paar Gedanken zur neuen Struktur macht, kann seine Organisation resilienter und effizienter aufstellen.

Diplom-Wirtschaftsingenieur Ralf H. KOMOR, ist Executive Interim Manager auf C-Level, zertifizierter Beirat, Most Trusted Adviser für die Beratung von Familienunternehmen und Springer Autor. Er entwickelt neue Geschäftsmodelle und Vertriebsstrategien für Startups, Scaleups und den Mittelstand und begleitet aktiv Veränderungsprozesse in Menschen und Organisationen.

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