Wenn Transformation die Herausforderung ist – warum ist Vernetzung die Lösung?

In einer immer komplexeren Wirtschaftswelt setzen moderne Organisationen auf weniger Hierarchie und mehr Vernetzung, um bessere unternehmerische Entscheidungen zu treffen

Die Welt wird für uns immer unberechenbarer, klare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind kaum mehr erkennbar. Gleichzeitig müssen Organisationen schneller und besser auf geänderte Rahmenbedingungen reagieren. Starre Organisationen und feste Abstimmungswege entlang der klassischen Hierarchie verhindern, dass dort Entscheidungen gefällt werden können, wo sie dringend benötigt werden. Vernetzung, moderne Arbeitswerkzeuge und eine kollaborative Arbeitshaltung können das ändern.

Es mag überraschen, dass dieser Beitrag rund um Transformation und Vernetzung mit einem Bild aus der Tierwelt beginnt: Lassen Sie uns kurz über Seesterne und Spinnen sprechen. Bei beiden Erscheinungsformen des bunten Lebens auf unserem Planeten haben wir es mit Wesen zu tun, deren Gliedmaßen symmetrisch um einen zentralen Punkt angeordnete sind. Dies ist allerdings die einzige äußerlich erkennbare Gemeinsamkeit. Spannend ist der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Lebewesen, der nicht sofort sichtbar ist: Verliert die Spinne ihr wichtigstes Glied, den Kopf, dann stirbt sie. Denn damit versagt die zentrale Steuerung unwiederbringlich und die Gliedmaßen werden wertlos. Verliert dagegen ein Seestern Gliedmaßen, so wachsen sie nach. Das kann so weit gehen, dass aus einem abgetrennten Bein ein neuer Seestern heranwächst.

Was hat dieser Ausflug ins Tierreich mit Transformation zu tun? Den Vergleich zwischen Seestern und Spinne nutzen die Autoren Ori Brafman und Rod A. Beckström schon 2006, um in ihrem Bestseller Organisationen zu vergleichen. Sie verglichen Spinnen- und Seestern-Organisationen. Spinnen werden hierarchisch über den Kopf gesteuert, Seesterne dagegen dezentral.  Die klassischen, hierarchisch organisierten Unternehmen bezeichnen sie als Spinnenorganisationen, die vollständig darauf ausgerichtet sind, dass Befehlsketten von oben nach unten laufen und Berichtsketten von unten nach oben verdichtet werden. Schon damals rufen die Autoren das Zeitalter der Seestern-Organisationen aus: Sie analysieren dezentrale Entscheidungsstrukturen, offene Kommunikationsstrukturen und die Macht der Netzwerke – und zeigten, dass Organisationen in der Dynamik des digitalen Zeitalters überlebensfähig bleiben, wenn sie mehr Seestern als Spinne sind.

Überleben in der Krise

Heute, fast 15 Jahre später, ist es an der Zeit, erneut einen Blick auf Seesterne und Spinnen zu richten. Zwei veritable Krisen später – Finanzkrise im Jahr 2008 und COVID19 heute – zeigen sich diejenigen Organisationen als besonders widerstandsfähig, die die notwendige Sensorik entwickelt haben, um schnell auf oftmals unvorhergesehene Veränderungen zu reagieren. Zunehmender Komplexität, so zeigt sich, kann man nicht mit starren Hierarchien und ausgefeilten Betriebshandbüchern begegnen. Und die Welt wird, das scheint klar, zunehmend komplex, wenn nicht sogar chaotisch.

Um das zu verstehen und zu erkennen, hilft auch hier ein Blick in die Vergangenheit: der Organisationspsychologe Prof. Peter Kruse hat in einem kurzen, absolut sehenswerten dreiminütigen Auftritt schon vor fast 10 Jahren vor der Enquete-Kommission des Bundestages jene Effekte beschrieben, die durch die zunehmende Vernetzung und Dynamisierung von Organisationen und Gesellschaften entstehen.

Er führt aus, dass einer hohen Vernetzungsdichte, einhergehend mit einer hohen Spontanaktivität, die Tendenz innewohnt, nichtlineare Effekte zu erzeugen. Er beschreibt damit den heute weithin bekannten Aspekt, dass sich Verhältnisse „aufschaukeln“ können –  mit der Konsequenz einer abnehmenden Kontrollierbarkeit. Da diese Effekte nicht vorhersagbar seien, rät Kruse Entscheidungsträgern zu einer großen Nähe in Bezug auf Märkte und Gespräche, denn nur so sei das notwendige „Gefühl für die Resonanzmuster der Gesellschaft“ zu entwickeln.

Frühwarnsignale erkennen

Allerdings, so unsere Beobachtung, sind wir fast 10 Jahre nach dieser Diagnose weit davon entfernt, dass Entscheider die „Resonanzmuster“ wahrnehmen und bewusst erkunden. Zu dicht ist der Terminkalender, zu starr sind die Strukturen. Und: Es ging ja auch alles bisher gut. Entwicklungen, die schon frühzeitig mit ersten Signalen in internen und externen Netzwerken ihren Anfang nehmen, werden nicht als Frühwarnsignale gesehen. Gelegenheiten, sich zeitnah in Dialoge einzubringen, Entwicklungen durch Setzen von Themen zu steuern, verstreichen ungenutzt. Führungskräfte bringen sich so um den Zugang zu einem Seismographen für Veränderungen, den diese Netzwerke bilden. Und sie vertrauen zu sehr auf die angestammte Hierarchie, die ihnen per Stellenbeschreibung und Kästchen im Organigramm die Macht zu sichern scheint – wo nun immer mehr deutlich wird, dass derjenige führt, der Themen setzt und gleichgesinnte Follower hinter sich sammelt.

Dabei hat sich gerade in den letzten 10 Jahren entscheidendes getan: Insbesondere große Unternehmen treiben zunehmend die interne Vernetzung aktiv voran: Mit dem Aufkommen erste interner soziale Netzwerke, quasi unternehmensinterne Varianten von Facebook & Co, ermöglichen Unternehmen die Vernetzung der Mitarbeiter über Abteilungs-, Standort- und Hierarchiegrenzen hinweg. Und während die gute, alte E-Mail vielenorts zu einer „Digitalisierung der Umlaufmappe“ verkam, um mit möglichst großen Verteilern Aufgaben von meinem Schreibtisch in anderer Kollegen Posteingang zu verschieben, zeigen sich nun ganz andere, innovative Chancen vernetzter Zusammenarbeit. Die Umkehrung vom Zuteilungsprinzip („Ich entscheide, was die Kollegen lesen müssen“) hin zum Pull Prinzip („Die Information wird ihre Leser finden“) hält mit neuen digitalen Arbeitswerkzeugen Einzug in moderne Organisationen. Diese neue Art des digitalen Miteinander kollidiert mit über 100 Jahre alten, aus dem Militär abgeleiteten Organisationsprinzipien, nach denen das Informations- und Wissensmonopol bei den Entscheidern lag:  Sie wussten immer mehr als ihre Mitarbeitenden. Und die Berichts- und Befehlsketten strukturierten und kontrollierten deren  Aktivitäten, mithin das zentrale Selbstverständnis einer Führungskraft.

Die Kunst, loszulassen

Und genau an dieser Stelle, so beobachten wir heute, hat die Corona-Krise eines deutlich gezeigt: ein nicht sichtbarer, aber äußerst effektiver Feind sorgt für die Notwendigkeit, Kontrolle aufzugeben. Organisationen sind über Nacht gezwungen, auf die Selbstorganisationsfähigkeiten ihrer Mitarbeiter zu vertrauen.

In einem ersten hektischen Schritt wurden dort, wo Mitarbeiter nicht mehr zum Arbeitsplatz erscheinen konnten und die technischen Voraussetzungen vorlagen, die Mechanismen der analogen Welt auf die digitalen Medien übertragen. Das ging gerade in großen Unternehmen, die bereits ihre Wissensarbeiter mit mobilen Endgeräten ausgestattet und digitale Plattformen für Kollaboration wie Office 365 ausgerollt hatten, erstaunlich gut, führte aber letztlich zu neuen Formen der Überforderung: Analoge Meetingkultur, nahtlos übersetzt in die digitale Welt, sorgten für virtuelle Dauermeetings, ohne Pausen, am gleichen Platz auf den selben Bildschirm starrend. Ein neues Krankheitsbild war geboren: „Zoom Fatigue“ wurde es getauft. Verloren gingen dabei für bisher wenig vernetzte Mitarbeiter das zufällige Gespräch im Gang und die kreative Zusammenarbeit im persönlichen Miteinander.

Was bedeuten diese Herausforderungen also für die neue Arbeitswelt? Wir müssen unsere Organisationen auf die Herausforderungen der vernetzten Arbeitswelt vorbereiten. Die Antworten auf die Herausforderungen der digitalen Welt liegen aber nicht in der exakten Digitalisierung der analogen Welt. In dem Maß, in dem die „Nicht-Vorhersagbarkeit“ zunimmt, Entwicklungen exponentiell verlaufen und wir die Auswirkungen unseres Handelns mit den Grenzen unserer Wahrnehmung nicht mehr beurteilen können, brauchen wir neue Formen von Organisation und Führung. Zunehmende Komplexität erfordert dezentrale Entscheidungsformen. Komplexität bedeutet, wir sehen keine Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mehr – das unterscheidet sie von Kompliziertheit, in der alle Probleme mit ausreichend Budget und einem hohen Maß an Regelungen und Prozessen lösbar sind. Komplexe Probleme dagegen brauchen andere Problemlösungsstrategien. Wir müssen Dinge ausprobieren, mit Scheitern rechnen, Rückschlüsse ziehen, und dann reagieren. Es erfordert eine Kultur des Experimentierens sowie eine maximal diverse Zusammensetzung der Menschen, die gemeinsam an Herausforderungen arbeiten. Entscheidend wird sein, wie effektiv wir unsere Netzwerke dafür einsetzen können.

Wenn schwache Verbindungen stark machen

Werfen wir noch einen letzten Blick zurück: Mark Granovetter, amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe und vermutlich einer der prominentesten Vertreter der Netzwerkanalyse, veröffentlichte bereits 1970, lange vor dem Erfolg des Internets und der sozialen Medien, den in der Soziologie meistzitierten Aufsatz mit dem Titel „The Strength of Weak Ties“. Darin legt er dar, dass es gerade die schwachen Verbindungen in unserem persönlichen Netzwerk sind, die für Erfolg sorgen. Unsere „strong ties“, die starken, oft selbstverständlichen Verbindungen – die Kollegen in unserer Abteilung, die Familie, die engen Freunde – geben Halt, helfen uns aber nicht, über den begrenzten Tellerrand hinaus und mit den immer gleichen Denkansätzen auf neue komplexe Probleme zu reagieren. Die schwachen Verbindungen sind es, die uns den Umgang mit nicht vorhersehbaren Problemstellungen ermöglichen, denn sie bringen ausreichend Diversität und damit neue Blickwinkel in die Lösungsfindung ein.

Was also macht ein Unternehmen zum Seestern? Es sind zum einen die Möglichkeiten der Vernetzung, die die Mitarbeiter über alle Grenzen hinweg nutzen können. Das erfordert technische Plattformen, Zugang zu Netzwerken, aber auch die Fähigkeit, diese Werkzeuge zu bedienen. Viel wichtiger – und darauf kommt es uns besonders an – ist die Haltung für eine offene, partizipative Zusammenarbeit im Netz. Eine Haltung des aktiven Zuhörens, des frühzeitigen Teilens auch unfertiger Arbeitsergebnisse, das aktive Einbinden verschiedenster Professionen und die Möglichkeit, zufällig über Lösungen aus ganz anderen Bereichen stolpern zu können.

Neue Haltung für ein neues Miteinander

Ohne Zutrauen insbesondere von und in die Führungskräfte, ohne aktives Vorleben sichtbarer Vorreiter, ohne die Möglichkeit, die Chancen der Netzwerke angstfrei kennenzulernen und diese für sich erfahrbar zu machen, wird die neue Haltung nicht wirksam im Tun und Handeln des Unternehmens. Eine neue Haltung entwickelt sich nicht von heute auf morgen, eine neue Kultur kann nicht verordnet werden. Wir können heute allerdings die neuen Rahmenbedingungen schaffen, die Mitarbeitenden neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen, Vernetzungsmöglichkeiten bieten und neue Freiräume schaffen.

Dass diese Möglichkeiten langfristig Erfolg versprechen, dafür gibt es in unserer Arbeit zahlreiche Indikatoren. Der Erfolg des Lernprogramms Working Out Loud als Basis für die Etablierung einer neuen Haltung zu Zusammenarbeit und Vernetzung zeigt das ebenso wie das zunehmende Wachstum von Mitarbeiterinitiativen, die ohne Auftrag, aber mit Erfolg diejenigen Themen in Organisationen adressieren, die nicht Top-Down entschieden werden, aber die Zukunft des Unternehmens sichern – im   Buch „Graswurzelinitiativen in Unternehmen“ von Sabine und Alexander Kluge wird diese Entwicklung im Detail beschrieben. Diese Initiativen sind erfolgreich dort, wo Vernetzungsmöglichkeiten bestehen, wo Follower für dringende Themen gewonnen werden können, wo Sichtbarkeit hergestellt werden kann. Die Graswurzel ist, so Dr. Thomas Sattelberger, ehemaliger Personalvorstand bei Lufthansa, Continental und Telekom, eine der „Ingredienzien“ für den notwendigen Wandel, „sie bildet den Humus für Veränderungen in Unternehmen“. Schaffen wir also mutig die Grundlage für die Wirksamkeit des Wissens der Vielen und fangen an, Vernetzung zu ermöglichen, zu fördern und damit gemeinsam unsere Organisationen zukunftsfähig zu machen.

Autor: Alexander Kluge, Gründer und Geschäftsführer von kluge_konsorten.

Alexander Kluge ist Speaker bei  Mission M 2020, dem Kongress für junge Macher_innen im Mittelstand zum Thema  „Wenn Transformation die Herausforderung ist – warum ist Vernetzung die Lösung?“

Mission M ist ein Veranstaltungskozept, welches sich an mittelständische Unternehmen richtet. Mission M dient als Plattform für Führungskräfte von heute und morgen, die Verantwortung übernehmen und Veränderungen im Unternehmen antreiben möchten. Im Fokus steht die Frage, wie Innovationen in Leadership, Zusammenarbeit, Arbeitsstrukturen, Technologien und strategischer Ausrichtung sie dabei unterstützen können und auf welche Weise diese Innovationen erfolgreich umzusetzen sind. 2020 wird der Kongress als Hybrid-Event durchgeführt. Nächster Termin ist der 3. und 4. November 2020, Veranstalter ist die Baden-Württemberg Stiftung.

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