Lernen statt belehren – die Rollen verändern sich im Schulwesen

Bildung 4.0 - Thesen und Themen zur digitalen Transformation der Schule

Digitalisierung verändert unser Lernen sowie auch unser Schulwesen. Wie sehen die Rollen in Zukunft aus und wohin geht das Schulsystem durch die Digitalisierung?

Was Grundsätzliches vorweg

Schule ist ein Abbild der Gesellschaft oder ist die Gesellschaft doch ein Abbild der Schule? In dieser Frage verhält es sich etwa wie zwischen Henne und Ei, denn einerseits wird Schule von vielen Teilen der Gesellschaft gestaltet, andererseits entstammen diese Teile selbst dem System Schule. Bereits diese Symbiose legitimiert den zähen und trägen Wandel. Schule ist ein künstlich kreiertes Konstrukt und, zumindest biologisch und historisch betrachtet, in der letzten Sekunde der Menschheit entstanden. In grossen Teilen ist sie Überbleibsel der Industrialisierung und dieser mit Sicherheit auch dienlich gewesen. Und obwohl wir wissen, dass viele dieser starren Strukturen in zukünftigen Formen von Gesellschaft und Arbeitswelt nicht mehr länger existieren werden, ist dieses Konstrukt bis heute nahezu unverändert geblieben und wir halten seit mehreren Jahrhunderten daran fest, im Irrglauben, es könne jedem gerecht werden. Schule ist nur eine Institution, eigentlich geht es um das, was dort Raum und Zeit haben sollte, um das Lernen.

6 Thesen zur Digitalisierung in Schulen

Die Chancen der Digitalisierung und vor allem der daraus resultierenden Transformationsprozesse für einen Wandel des Lernens und des Bildungssystem sind unzählig. Das Themenspektrum ist derart gross, dass man damit Bücher füllen kann und auch füllt. Die Sucheingabe «Digitalisierung Schule» bei NZZ und FaZ generiert rund 180 Beiträge in den letzten 365 Tagen (Stand: 1. August 2019). Allein in diesen beiden Zeitungen ist innerhalb des letzten Jahres an rund jedem zweiten Tag ein Artikel zum Thema Digitalisierung in der Schule veröffentlich worden. Kein Thema hat die Schulen so sehr aus dem Tiefschlaf gerissen, wie die Digitalisierung bzw. die digitale Transformation. Dies zeigt deutlich, dass wir uns vor diesem Wandel nicht verstecken können, dass wir uns nicht im Keller einsperren und drauf hoffen können, das ginge schon vorbei und danach ist alles so wie früher. Ich möchte daher zu Beginn provokativ 6 Thesen aufstellen. Mein Ziel ist es nicht, diese zu belegen, denn das wäre gar nicht möglich. Es handelt sich um Behauptungen in Bezug auf die Zukunft der Schule und des Lernens. Sie sollen daher auf irritierende Weise zum Nachdenken anregen.

Bevor ich nun zur Sache komme, die versprochenen Thesen. Sie sind grundlegend. Sie tun unserer Vorstellung von Schule vielleicht weh. Sie werden vielleicht von vielen Augen nicht gerne gelesen. Für manch einen mögen sie prophetisch klingen, aber ich halte sie für evident:

  1. Die Schule ist in der Digitalisierung das wichtigste Teilsystem, welches sich transformieren muss, aber das letzte, das sich transformieren wird.
  2. Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert – auch die Schule.
  3. Die Schule, so wie wir sie heute kennen, wird sich selbst abschaffen.
  4. Digitalisierung ist nichts Neues, sondern ist irgendwie schon seit Jahrzehnten da.
  5. Digitalisierung ist nie fertig – Schule ist nie fertig.
  6. Veränderung durch Digitalisierung heisst Veränderung von allem, auch von der Schule.

Um die oben aufgeführten Thesen zu verkraften, muss sich die Schule radikal ändern. Das klingt komplex und erzeugt auf den ersten Blick oftmals Angst bei vielen, die an Schule beteiligt sind. Im Prozess der Transformation ist allerdings nicht der Umbruch per se das Problem, sondern unsere eigene Haltung im Denken und Handeln von gestern sowie der fehlende Mut, die sichere und bequeme Komfortzone zu verlassen.

Aber inwiefern verändert die Digitale Transformation nun das System Schule bzw. welche Ansprüche stellt sie an das Schulsystem? Lasst uns die Teilbereiche, Oberflächen und Muster von Schule doch mal gemeinsam in den Fokus rücken und sie mutig mit den Möglichkeiten der Digitalisierung transformieren, dabei den Blick über den Tellerrand nicht aus den Augen verlieren und in die Zukunft «visionieren».

Lernen statt belehren – die Rollen verändern sich

Kindergartenkinder, die heute vier Jahre alt sind, werden noch in der Arbeitswelt von morgen aktiv sein, wenn sich das 21. Jahrhundert dem Ende neigen wird. Nahezu alle Jobs werden sich bis dahin verändert haben, viele werden verschwinden, andere werden neu entstehen, die wir uns jetzt noch nicht ansatzweise vorstellen können. Da sollte man schon mal darüber nachdenken, was man diesen jungen Menschen für ihre Zukunft mit auf den Weg geben sollte. Wie müssen sich die Rollen von Lehrenden und Lernenden ändern?

Verantwortungsbewusst heisst, Verantwortung bewusst abgeben zu können

Werden Lehrpersonen jetzt ersetzt…durch Roboter? Ja, sie werden ersetzt, da bin ich mir sicher…aber nicht von Robotern, sondern vielmehr von Menschen, die einen sinnvollen Umgang und Einsatz von Medien sowie intelligenten Technologien beherrschen sowie zeitgemässe Lern- und Arbeitsformen in offen gestaltete Lernräume integrieren können. Wie man den Beruf dieser Menschen zukünftig betitelt, wird sich zeigen. Viele der tagtäglichen Aufgaben zukünftiger Lehrpersonen, speziell Zentralisiertes, Lernanalytisches, Administratives und Bürokratisches können durch intelligente Technologien bereits heute erledigt werden. Die universitäre Ausbildung von Lehrpersonen wird sich zukünftig mehr auf die Entwicklung persönlicher Haltung und Werte sowie die Wissenschaft von Lern- und Verhaltenspsychologie, Neurologie und neuer Arbeitsformen konzentrieren, statt auf isolierte Methodik und Fachdidaktik. Pädagogen werden im intrinsischen Studium (Intrinsic Campus) zu Coaches und unterstützen Kinder und Jugendliche im Entfalten von Neugierde, in der Entwicklung der Persönlichkeit und begleiten sie in explorativen Lernprozessen an ihr persönliches Ziel. Sie sind Experten des Lernens, arbeiten konsequent kompetenzorientiert und sehen sich dabei als Teil eines Teams, das den Schülerinnen gerecht werden will. Sie entwickeln ihre Bildungsinstitution stetig weiter, vernetzen sich unter Experten, auch über die Grenzen des Schulgebäudes hinaus.

Das verlangt von uns Pädagogen, Verantwortung bewusst abgeben zu können und unseren Kindern und Jugendlichen mehr zutrauen zu können, damit sie sich selbst trauen, stetig agil zu bleiben. Die Beziehung zwischen den beiden ist dabei ausschlaggebender Nährboden und entscheidend für den Lernprozess. Somit können diese Lernbeziehungen auch zwischen Kindern und Jugendlichen selbst entstehen (PeerLearning). Deshalb erarbeiten Lehrende und Lernende zukünftig im Dialog, wer mit wem, wann, wo, was und mit welchem Ziel lernt. Altersgrenzen, Schulformen und Klassen ergeben somit keinen Sinn mehr. Schulen sind agiler und flexibler organisiert. Dies werde ich aber in den folgenden Artikeln thematisieren.

Curriculum follows Passion – Lernen funktioniert nur intrinsisch

Wie verändert sich die Rolle der Schülerinnen und Schüler? Wenn die Schule keine Schule mehr sein wird, wird auch der Schüler kein Schüler mehr sein. Die klare Selektion und Standardisierung des aktuellen Schulsystems fördern nur in wenigen Facetten die Integration und Entwicklung von Individuen, aber leider in vielen Strukturen die Vereinheitlichung des Menschen sowie die Trennung von Gruppen gemäss Leistungsprinzip. Damit erzeugt die Schule ein künstliches Abbild von Gesellschaft. Die Einzigartigkeit, Vielfältigkeit und Individualität jedes lernenden Menschen werden zukünftig ausschlaggebend für den dynamischen Lernprozess des Lernenden sein. Unzählige Wikis, Lernseiten und -videos unterstützen Schülerinnen und Schüler in personalisierten und massgeschneiderten Lernszenarien, auf individualisierten Lernwegen und bei persönlichen Lernzielen. Ein Einheitslehrplan wird somit langfristig obsolet. Das Motto lautet: «Curriculum follows Passion». Einheitliche Zeitpläne und Fächerkanones werden den Lernenden nicht mehr gerecht und richten sich nicht nach den Lernrhythmen des Einzelnen.

Der Lernende steht mit seiner Leidenschaft und Neugier im Zentrum. Er entscheidet selbstbestimmt, aber stets pädagogisch unterstützt und begleitet, wo er thematische Schwerpunkte und inhaltliche Tiefe im Lernen setzt. Intrinsisch motiviert, thematisch fasziniert. Talent und Faszination werden gefördert. Inhalte werden zum Teil selbstständig recherchiert, konsolidiert und repetiert. Dazu verlagern sich Schwerpunkte des Lernens auf überfachliche Kompetenzen und Soft-Skills. Kinder lernen also in erster Linie wie man lernt und nicht, wie man belehrt wird. Personalisierte Lernplattformen geben Überblick und Feedback für den Lehrenden, aber auch für die begleitenden Pädagogen und Eltern.

Die Digitalisierung unterstützt Lehrende und Lernende also in der Schule der Zukunft auf dem Weg von Standardisierung, Vereinheitlichung und Selektion hin zu Personalisierung, Agilität, Dynamik und Integration.

Philipp Zimmer ist Schulleiter und Schulentwickler. Er wirkte massgebend an der Entwicklung mehrerer Schulkonzepte mit. Dabei entstanden digitale Lernplattformen, die massgeschneiderte Tagesabläufe und Lernwege für Schülerinnen und Schüler ermöglichen. Er beschäftigt sich intensiv mit digitalen Transformationsprozessen im Bildungsbereich sowie zeitgemässen und zukunftsfähigen Lernkulturen.

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